Über die Liebe und die Literatur

von Redaktion

Haruki Murakami wird 75 und legt „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ vor

VON WELF GROMBACHER

Wie eine Gräte, die in der Kehle feststeckt, habe ihn diese Geschichte gestört. So beschreibt es Haruki Murakami. Schon 1980 veröffentlichte er eine Erzählung mit demselben Titel in einer Literaturzeitschrift. Aber er hatte das Gefühl, sie voreilig in die Welt gesetzt zu haben. Deswegen verzichtete er darauf, sie als Buch zu publizieren. Nachdem er „Wilde Schafsjagd“ (1982) geschrieben hatte, nahm er sich das Manuskript noch einmal vor. Ohne Erfolg. Immer wieder wollte er es überarbeiten. Aber die Arbeit im Jazzclub, den er damals mit seiner Frau Yoko leitete, ließ ihm nicht die Zeit. „Ich hatte erst kurz zuvor als Romanautor debütiert und wusste noch nicht, was ich zu schreiben vermochte und was nicht“, erklärt Murakami und fügt hinzu, er habe noch nicht über die „schriftstellerische Fähigkeit“ verfügt, einen Roman aus dem Stoff zu machen. 40 Jahre mussten vergehen. Erst während der Pandemie ist es ihm geglückt.

Und so erscheint „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ in Deutschland heute rechtzeitig zu Haruki Murakamis 75. Geburtstag. Es ist ein fantastischer Roman über die Liebe und die Literatur. Der namenlose Ich-Erzähler ist 17, als er sich in ein Mädchen verliebt. Gemeinsam malen sie sich jene geheimnisvolle Stadt aus, in der, wie das Mädchen sagt, ihr „wahres Ich“ wohne. Nur wer seinen Schatten abgibt, darf sie betreten. Bald findet sich auch der Erzähler in dieser Stadt wieder, als „Traumleser“ in einer Bibliothek, in der keine Bücher, sondern Träume darauf warten, entschlüsselt zu werden.

Ein wenig mühsam gestaltet sich der Einstieg. Doch nach und nach entfaltet die Geschichte ihren Sog. Da hat der Erzähler seinem Schatten, den er vor der Stadt lassen musste, schon zur Flucht verholfen; plötzlich findet er sich in der realen Welt wieder. Er wird Buchhändler und nimmt später eine Stelle als Direktor einer Provinzbibliothek im Distrikt Fukushima an. Die Erinnerung an seine Jugendliebe, die von einem auf den anderen Tag verschwunden ist, lässt ihn zeitlebens nicht los. Ein Motiv, das der 1949 in Kyōto als Kind zweier Lehrer für japanische Literatur geborene Murakami immer wieder verarbeitet hat.

Mit Werken wie „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ (1985) und „Naokos Lächeln“ (1987) machte sich der Autor einen Namen. In Deutschland schaffte er im Jahr 2000 mit „Gefährliche Geliebte“ den Durchbruch, nachdem es im „Literarischen Quartett“ zum Eklat gekommen war, der mit dem Ausscheiden von Sigrid Löffler aus der ZDF-Sendung endete.

Längst gilt Murakami als Kult – ebenso sein aktueller Roman. Ein ums andere Mal wird darin das Bewusstsein des Erzählers durch Surreales unterlaufen. Realität und Fantastisches vermischen sich kunstvoll. Gern wird das Werk des Japaners dem Magischen Realismus zugeordnet. Und mit der Erwähnung von Gabriel García Márquez, bei dem Wirkliches und Unwirkliches sich ebenfalls mischen, würdigt Murakami im Buch seinen kolumbianischen Lehrmeister. Nicht nur ihn. Mit dem Verlust des Schattens und dem Doppelgänger-Motiv verweist er auf Adelbert von Chamisso und die deutschen Romantiker und belegt damit einmal mehr seine enorme Kenntnis auch der europäischen Literatur.

Mehrmals lässt der Mann, der Jahr für Jahr als heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, einen in die Irre gehen. Gerade daraus bezieht dieser Roman seinen Reiz. Er lässt sich, wie das bei guter Literatur der Fall ist, auf unterschiedliche Weise lesen. Steht die Stadt für die Liebe, auf die sich der Erzähler nicht bedingungslos einlassen kann? Oder für eine Welt des Geistes? Nicht von ungefähr wird der Protagonist nach der Rückkehr in die reale Welt Buchhändler und nicht Autor. Der Kunst nähert er sich nur mittelbar. Oder ist die Stadt ein Reich der Fantasie, in der verschwinden kann, wer den Kontakt zur Realität verliert?

So aktuell eine solche Lesart in der Zeit von KI, Avataren und virtuellen Räumen erscheinen mag: Murakami bleibt dem geschriebenen Wort treu. Der Welt, die er entwirft, haftet etwas zauberhaft Antiquiertes an. Es ist eine Welt, in der man abtauchen oder aufgehen kann. Und ist es nicht das, was Literatur anziehend macht? Mit der Erfahrung eines langen Schriftstellerlebens ist es Haruki Murakami gelungen, die Gräte im Hals zu lösen. Entstanden ist ein Meisterwerk.

Haruki Murakami:

„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, Köln,

640 Seiten; 34 Euro.

Haruki Murakami wurde 1949 in Kyōto geboren

Der Autor ist seit Langem Kandidat für den Nobelpreis

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