Eigentlich hätte diese Lesung Anfang November stattfinden sollen. Im Rahmen der Münchner Bücherschau wollte Cornelia Funke aus ihrem Wohnort Volterra in der Toskana anreisen. „Das ist doch praktisch in der Nachbarschaft“, so die Autorin gleich zu Beginn. Doch wegen einer Covid-Erkrankung musste sie die Veranstaltung verlegen. Die jugendlichen wie erwachsenen Fans nahmen’s nicht krumm und erschienen gestern in ebenso großer Zahl zur Matinee im Residenztheater. In der Reihe „Resi liest“ trugen die Autorin sowie der Schauspieler und Sprecher Rainer Strecker einige Passagen aus „Die Farbe der Rache“ vor, dem kürzlich veröffentlichten vierten Band von Funkes „Tintenwelt“-Saga.
Die Handlung in der unglaublich plastisch beschriebenen Fabelwelt von Meggie, Farid, Doria, dem Schwarzen Prinzen und all den anderen setzt fünf Jahre nach den Ereignissen von „Tintentod“ ein. Die Stadt Ombra konnte in Frieden leben. Nur Staubfinger, der dieses Mal deutlich im Mittelpunkt des Geschehens steht, sorgt sich noch. Nicht zu Unrecht, wie sich zeigen wird. Denn Orpheus, für den es in den vergangenen Jahren nicht gut lief und der sich nun als Privatlehrer versnobter reicher Töchter verdingen muss, sinnt auf Rache.
„Staubfinger war von Anfang an die Lieblingsfigur der Leser“, erzählt Funke gestern Mittag in München. „Überall und in jeder Altersgruppe war man von ihm besonders begeistert.“ Daher habe sie ihn zu einem der Helden in „Die Farbe der Rache“ erkoren – auch wenn ihr Lieblingscharakter in der Reihe immer der Schwarze Prinz sein werde. Im Gegensatz zu Autorenkollegen, die insgeheim mit den Finsterlingen der eigenen Geschichten am meisten sympathisieren, seien ihr die Guten doch näher, verrät die 65-Jährige. „Die Bösewichte sind zwar gebrochene Figuren, aber deshalb nicht unbedingt spannender als die anderen.“ Zwischen den Lesepassagen plaudert Funke mit Moderator Niels Beintker und verrät – wie auch in der anschließenden Diskussion mit dem Publikum – viel über ihren kreativen Schaffensprozess.
„Ich erfinde diese Figuren ja nicht. Die kommen irgendwann zu mir, wie es einem im echten Leben mit Menschen passiert. Daher haben sie auch alle ihre Geheimnisse, die ich erst allmählich erfahre“, beschreibt die Schriftstellerin ihre Arbeit. „Ich bin nur der ausführende Stift.“ Beim aktuellen Band sei es beispielsweise so gewesen, dass sie schon beschäftigt war, die Themen „Freundschaft“ und „Die Macht der Bilder“ umzusetzen, als sich ihr plötzlich eine weitere Figur näherte: Lilja, die Pflanzenflüsterin. „Und auf einmal eröffnet sich ein weiteres Thema, das ich nicht erwartet hatte“, gesteht Funke lächelnd. „Jetzt geht es viel stärker um die Jungen, die letztlich die Welt retten müssen.“ Darin erkennt sie viele Parallelen zur Realität. „Jeder Planet, den wir erfinden, ist immer nur ein Liebes- oder Schreckensbild dieser Welt. Eine andere kann man sich doch gar nicht vorstellen.“ Und Cornelia Funke fügt mahnend hinzu: „Was wir den jungen Menschen momentan zumuten! Das ist alles schon sehr viel.“ Am Ende: langer Beifall.