In „Sideways“ (2004) schickte ihn Regisseur Alexander Payne als frustrierten Schriftsteller durchs Weinland Kalifornien. Nun, 20 Jahre später, ist das Kreativ-Duo wieder vereint: Paul Giamatti hütet als Lehrer in einem verwaisten Elite-Internat im Neuengland der 1970er-Jahre den einzig über die Weihnachtsferien verbliebenen Schüler. Die Rolle des Paul Hunham in „The Holdovers“ brachte ihm bereits den Golden Globe ein, macht ihn zum heißen Oscar-Anwärter. Diese Woche läuft der Film in den deutschen Kinos an. Wir trafen den 56-Jährigen zum Gespräch.
Hatten Sie selbst je eine Lehrkraft, die bleibenden Einfluss auf Sie hatte?
Ja, klar. Ich hatte eine Menge wirklich guter Lehrer. Und auch eine Reihe, die einen negativen Einfluss hatten – was vielleicht sogar mehr Eindruck hinterlassen hat. Ich hatte einen furchteinflößenden Mathe-Lehrer, der mich wirklich fürs Leben gezeichnet hat. Er war ein unglaublich grausamer, gemeiner Mann. Leute haben die Schule verlassen, weil er sie seelisch gebrochen hat. Ich habe noch immer Albträume vom Mathe-Unterricht.
Bei Schauspiellehrern hatten Sie mehr Glück …
Als ich mit dem College fertig war und dachte, ich könnte es mal mit Schauspielerei probieren, habe ich einen Kurs in England besucht. Mein erster Schauspiellehrer war Alan Rickman. Damals war er mir noch kein Begriff. Da war er eher von der Bühne bekannt. Aber er war fantastisch. Er war ein wirklich großartiger Lehrer. Und ein sehr netter Mensch. Er hat mich sehr ermutigt, bei der Schauspielerei zu bleiben. Was zuvor niemand getan hatte.
Haben Sie selbst je erwogen, Lehrer zu werden?
Meine Großeltern und Eltern waren Lehrer, ebenso Cousins, Tanten, Onkel. In meiner Familie schien das quasi vorgezeichnet. Aber ich wusste, dass ich kein guter Lehrer wäre. Ich wäre das Gegenteil von meiner Filmfigur: Er ist zu streng – ich wäre zu nachgiebig. Was auch nicht gut ist.
Haben die Parallelen zur eigenen Biografie bei der Rolle geholfen?
Ja, definitiv. Ich war in den Achtzigern auch auf einem Internat, als Externer. Da habe ich dort aber immer noch solche Typen von Lehrern wie Paul erlebt. Ich habe mich für die Rolle also nicht groß in Recherche reinknien müssen. Sondern einfach die Erinnerungen aus Schulzeiten wieder hochkommen lassen.
Ihr junger Co-Star Dominic Sessa hat vorher noch nie in einem Film gespielt. Empfanden Sie beim Dreh eine besondere Verantwortung für ihn?
Alexander Payne, meine Schauspielkollegin Da’Vine Joy Randolph und ich hatten ein Auge auf ihn. Aber er brauchte nicht viel Anleitung. Erst einmal zuvor habe ich mit einer Person gearbeitet, die wie er ganz frisch zum Film kam. Beide waren ziemlich selbstbewusst, sehr fähig und extrem klug und haben alles sehr schnell aufgesogen. Ich habe ihm lediglich gesagt, wie gut er ist. Sonst brauchte er tatsächlich nicht viel Hilfe.
Ihre Filmfigur hat ein stark schielendes Auge. Woher kam die Idee – und wie haben Sie das gemacht?
Das darf ich Ihnen nicht verraten. (Lacht.) Aber es war ein einfacher Trick – und offenbar funktioniert er. Ein Freund, den ich seit meinem fünften Lebensjahr kenne, dachte ernsthaft, er hätte nur noch nie bemerkt, dass ich schiele. Alexander wurde bei der Regie von einem französischen Film der 1930er-Jahre inspiriert, „Merlusse“ von Marcel Pagnol. Dessen Grundidee ist sehr ähnlich – und dessen Hauptfigur hat ein Glasauge. Für mich sind Pauls Geruch, sein Schwitzen, sein Auge wie Kainsmale. Sie zeichnen ihn als Außenseiter. Machen ihn zunehmend inakzeptabel für andere Menschen. Weshalb er umso mehr seine stoische Fassade errichten muss, all seine Marotten, die ihn durchs Leben bringen und mit denen er sich eine Illusion von Kontrolle einredet.
Paul leidet an der Stoffwechselstörung Trimethylaminurie, durch die man einen unangenehmen fischähnlichen Geruch aussondert. Haben Sie womöglich beim Dreh einen entsprechenden Duft getragen?
(Lacht.) Nein. Aber unsere Make-up-Frau meinte zu Dominic Sessa und mir: Ob ihr euch vielleicht nur jeden zweiten Tag waschen könntet …? Das sieht man, wir wirken ein wenig speckig. Genau wie in den Filmen der Siebziger. Man sagt: Wenn man bei Shakespeare den König spielt, dann spielen eigentlich alle um einen die Königsrolle. Ich musste nicht nach Fisch riechen – alle um mich mussten so tun, als würde ich riechen.
Gab es irgendein Detail, das für Sie der Schlüssel war zu Paul?
Da war so viel im Drehbuch, mit dem man arbeiten konnte! Die Drehbücher von Alexanders Filmen sind sehr literarisch. Bei jedem Lesen entdeckt man mehr und mehr und mehr. Ich weiß nicht, ob es ein Schlüssel-Detail gab. Aber das Sakko, das ich trage, ist sehr spezifisch, und ich habe sehr darauf insistiert, genau so ein Sakko zu haben. Weil alle Akademiker und Intellektuellen, die ich als Kind kannte, diese Sakkos trugen. Vielleicht habe ich Paul dadurch gefunden.
Nach der Verleihung der Golden Globes ging von Ihnen ein Foto um die Welt, auf dem Sie mit Ihrer Trophäe in einer Filiale der Burgerkette In-N-Out sitzen.
Das war seltsam. Ich verstehe nicht, warum manche Sachen sich im Internet derart verbreiten und andere nicht. Ich finde das wirklich faszinierend. Warum war das etwas, das viral ging?
Weil’s so schön ans Ende Ihres Films „Sideways“ erinnert?
Möglich. Aber ob die Person, die das Bild gemacht hat, daran dachte? Ich mag einfach den Laden und hatte Hunger … Da es das erste Mal war, dass mir so etwas passiert ist, fand ich’s interessant. Dauernd derart exponiert zu sein wäre nichts für mich. Keine Ahnung, wie die Leute damit umgehen, die das sind.
Das Gespräch führte Thomas Willmann.