„Bleiben wir diskussionsbereit“

von Redaktion

Nobelpreisträgerin Annie Ernaux unterstützt den Kultur-Boykottaufruf „Strike Germany“

VON MICHAEL SCHLEICHER

Die Internetseite wirkt reichlich obskur: In den Farben der palästinensischen Flagge Rot, Schwarz, Weiß und Grün ruft die Initiative „Strike Germany“ die internationale Kunstszene dazu auf, Deutschland zu boykottieren. Der Grund? Deutschland habe „die Repression gegenüber der eigenen palästinensischen Bevölkerung sowie denjenigen, die sich gegen Israels Kriegsverbrechen stellen“ verschärft. Deutsche Kultureinrichtungen würden obendrein zu „McCarthyistischen Maßnahmen“ greifen – eine Anspielung auf die Fünfzigerjahre in den USA, als Kommunisten (oder Menschen, die Joseph McCarthy dafür hielt) vom Geheimdienst verfolgt wurden. Weiter ist auf der Homepage etwa von einer „genozidalen Militäraktion im Gazastreifen“ zu lesen – Belege sind ebenso wenig aufgeführt wie ein Impressum oder ein Kontakt, an den man sich bei Nachfragen wenden könnte.

Rund 1000 Menschen haben den Boykottaufruf bislang unterzeichnet, darunter „Jack, Writer, USA“ und „Adel, Teaching, Lebanon“. Vor allem in der Club- und DJ-Szene haben bislang einige Künstlerinnen und Künstler mit „Strike Germany“ ernst gemacht und Auftritte abgesagt. So musste das Berliner CTM Festival, das am 27. Januar im Berghain startet, seine Eröffnungsnacht neu planen. Auch zog der Regisseur Ayo Tsalithaba aufgrund der angeblich zu israelfreundlichen deutschen Haltung seinen aktuellen Film aus einer Nebenreihe der Berlinale zurück. Dort reagierte man maximal entspannt: „Wir respektieren Ayos Entscheidung, da wir an die Gewissensfreiheit ebenso wie an die Freiheit der Kunst glauben und diese verteidigen.“

Dennoch sorgt „Strike Germany“ natürlich für Aufregung. Vor allem, seit bekannt wurde, dass Frankreichs Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux ihren Namen unter den Aufruf gesetzt hat. Das überrascht nicht wirklich, da die 83-Jährige, die vor zwei Jahren von der Schwedischen Akademie geehrt wurde, immer wieder mit ihren politischen Ansichten aufgefallen ist. Ernaux gilt als BDS-nah. BDS steht für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“ – diese Forderung richtet sich unter anderem gegen Waren aus Israel sowie gegen die Zusammenarbeit mit Israel in den Bereichen Kultur und Wissenschaft. Nicht nur die Regierungen in Deutschland und Österreich halten die Bewegung für antisemitisch. Zudem hatte die Schriftstellerin 2018 zum Boykott der Kultursaison „Frankreich-Israel“ aufgerufen und 2019 zum Boykott des Eurovision Song Contest in Tel Aviv.

Zu ihrem jüngsten Engagement will sich Ernaux nicht weiter äußern, wie Suhrkamp, ihr deutscher Verlag, mitteilte. Dort ist im vergangenen Jahr die Übersetzung von Ernaux’ jüngstem Werk „Der junge Mann“ erschienen – derzeit wird die Taschenbuchausgabe vorbereitet, die für 15. April angekündigt ist. Von Boykott ist hier nichts zu spüren. Das gilt auch fürs Bayerische Staatsschauspiel, wo heute im Marstall wieder die Bühnen-Adaption von „Erinnerung eines Mädchens“ gezeigt wird. „Annie Ernaux zieht die Rechte nicht zurück, also werden wir sie auch weiter spielen“, sagt Intendant Andreas Beck auf Anfrage. Der Theaterleiter stellt in diesem Zusammenhang die Frage: „Warum sollten wir unserem Publikum Annie Ernaux vorenthalten? Weil sie eine in meinen Augen falsche Unterschrift geleistet hat?“

Als Konsequenz aus der Debatte fordert Beck: „Wir sollten oder dürfen alle miteinander vehementer, auch heftiger streiten, ohne uns gleich dabei zu verletzen oder zu entzweien. Andere Meinungen zu tolerieren, ist doch die Basis eines freien, demokratischen Miteinanders. Wir Deutschen haben oder sollten eine andere Verantwortung aufgrund unserer Geschichte einnehmen. Aber all dies könnte man diskutieren. Auch in den deutschen Kulturinstitutionen. Wenn man sie nicht bestreikt. Bleiben wir also diskussionsbereit.“

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