Die Literatur antwortet dem Terror

von Redaktion

Münchens Kammerspiele starten die wichtige Lesereihe „Schreiben über ,Die Situation’“

VON MICHAEL SCHLEICHER

Es ist ein schlichter Satz, dessen Wahrheit, und, ja auch, dessen Kraft und Schönheit sich erst bei genauem Hinhören offenbaren. Der israelische Dramatiker Avishai Milstein, Jahrgang 1964, sagt den Satz an diesem Abend in der Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele: „Das Theater“, so also der Autor, der in Tel Aviv lebt, „ist ein Raum, der den Diskurs ermöglicht.“ Damit ist freilich zugleich die Idee formuliert, auf der die neue Reihe der städtischen Bühne basiert.

„Schreiben über ,Die Situation‘“ heißt dieses Format, das aktuelle Texte über den Terror der Hamas, den Krieg in Nahost sowie den weltweit aufbrechenden Antisemitismus versammelt. Im Rahmen des Projekts, das die Kammerspiele gemeinsam mit dem Institut für Neue Soziale Plastik ins Leben gerufen haben, schreiben israelische Autorinnen und Autoren sowie ihre jüdischen Kolleginnen und Kollegen in der Diaspora ein Jahr lang kontinuierlich über eine Gegenwart, für die der Angriff vom 7. Oktober eine Zäsur darstellt. Eine „Reflexion des jeweiligen Moments“ erhofft sich Stella Leder, die das Ganze entwickelt hat. Im zweimonatigen Rhythmus wird diese neue Literatur dann im Haus an der Maximilianstraße von Ensemblemitgliedern öffentlich vorgestellt.

Zum Auftakt gab es neben dem Dramolett „Dualidarität“ von Milstein die Zwei-Personen-Szene „Also wie möchtest du sterben?“ von Hadar Galron, 1970 in London geboren und heute in Israel zu Hause, sowie den sehr persönlichen Text „Bildschirmschoner“ der Münchner Autorin Lena Gorelik, die 1981 in St. Petersburg zur Welt kam. Präsentiert wurden die Arbeiten von Katharina Bach sowie ihrem Kollegen Bernardo Arias Porras. Ihnen gelang das Schwierige: die zum Teil hoch emotionalen Beiträge pointiert zu interpretieren, ohne in Kitsch, Pathos oder ähnliche Affekte abzubiegen. Im Hintergrund wurde derweil Kunst aus der Jerusalemer Galerie Y-Art projiziert, die sich mit dem Massaker vom 7. Oktober beschäftigt.

Ganz in jenen Tag taucht Gorelik in ihrer Prosa ein. „Bildschirmschoner“ ist ein tastendes Suchen nach Gefühlen, nach Erklärungen, nach Trost. „Das Weinen hat keine Sprache“, weiß die Autorin, die trotz aller Trauer glasklar die gesellschaftspolitischen Prozesse nach dem Überfall analysiert.

Hadar Galron, die als Einzige nicht zum anschließenden Gespräch mit Rachel Salamander, Germanistin, Publizistin und Gründerin der Literaturhandlung, anreisen konnte, schildert in „Also wie möchtest du sterben?“ den Dialog eines Paares in Tel Aviv nach dem Terror: Während er, ein Arzt, sich in die Routine des Jobs flüchtet, verlegt sie daheim das Leben der Familie in den Schutzraum. Ja, diese Mutter geht sogar so weit, dass sie die Reifen an den Rädern ihrer Kinder zersticht, damit diese sich nicht zu weit vom Schutzraum entfernen können.

Ein Ort, der keine Sicherheit bietet, wie im klugen, achtsamen Gespräch ebenso klar wird wie in Milsteins „Dualidarität“. Hier bekommt ein israelischer Autor den Anruf einer deutschen Dramaturgin, die gerne einige seiner Szenen für einen Solidaritätsabend hätte. Milstein entdeckt in seinem Dialog immer wieder das so überraschende wie erlösende Moment des Humors, der sich aus Absurdem speist. Vor allem aber nutzt er diesen, um deutsches Zögern zu entlarven. „Der Maskenball ist seit dem 7. Oktober zu Ende“, sagt Milstein später im Gespräch mit Salamander. „Es gibt Antisemitismus. Es gibt Opfer. Es gibt Täter.“

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