Plötzlich springt ein Herz durch Münchens Kammerspiele. Gerade lag es noch pulsierend in der Hand von Edmund Telgenkämper, nun hüpft es von Reihe zu Reihe, und die Menschen folgen gebannt – obwohl doch gar nichts zu sehen ist. All das spielt sich ausschließlich in den Köpfen des Publikums ab, und trotzdem wird an diesem Premierenabend einer im hinteren Drittel des Saals laut rufen, als er das gute Stück bei sich angekommen wähnt. Er wirft’s zurück nach vorne.
Diese kleine Szene aus der Inszenierung von „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“, Sandra Strunz’ Bühnenadaption des Romans von A. L. Kennedy, zeigt zwei Dinge: Welche Magie Theater entfalten kann und wie großartig Telgenkämper sowie seine famose Kollegin Wiebke Puls agieren. Denn letztlich ist es einzig ihr Spiel, das uns glauben macht, dass da tatsächlich ein Organ herumpurzelt.
Ein Herz ist ein zäher, kleiner Muskel. Davon berichtet die britische Autorin in ihrem Buch, das im vergangenen Jahr erschienen ist. Kennedy erzählt von zwei Menschen, die eine Vergangenheit teilen. Grundschullehrerin Anna tut alles, damit die nächste Generation gefeit ist vor Egoisten und anderen Vertretern toxischer Männlichkeit. Das Märchen vom Rumpelstilzchen ist ihr Unterrichtsmaterial, schließlich gilt es, die „Stilzchen“ im Alltag zu erkennen und zu umschiffen. Sie selbst ist einst auf eines hereingefallen: Buster engagierte sich wie sie in den Achtzigern in einer politischen Straßentheater-Truppe. Sie wurden ein Paar, dann verriet er – der Polizeispitzel – Anna und die Gruppe. Ihre Wege trennten sich; Buster wurde zum Killer, der sich indes ebenfalls auf der Seite der Guten wähnt, weil er Verbrecher vernichtet. Durch einen Zufall treffen die beiden einander Jahrzehnte später wieder – es bleibt der Kampf um die richtige Sicht auf die Welt und das Leben.
Die Schriftstellerin, Jahrgang 1965, arbeitet diese beiden Perspektiven deutlich heraus. Strunz, die gemeinsam mit Dramaturgin Viola Hasselberg die Spielfassung erstellt hat, übernimmt diese Parallelität. Sie inszeniert in der ersten Hälfte ein spannungsvolles Nebeneinander der Figuren, das auch die Bühne von Sabine Kohlstedt spiegelt. Während sich Anna in einem Vogelnest-Kokon eingeigelt hat (und trotzdem die Stricksocken-Gemütlichkeit Behauptung bleibt), treten Buster (und all die anderen „Stilzchen“) in einer Plexiglaskabine auf: ungeschützt vor den Augen der Öffentlichkeit, die sie erforschen und entlarven soll.
„Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ ist der Abend von Puls und Telgenkämper, die beide außerordentliche Leistungen zeigen – nicht nur beim nahtlosen Wechsel zwischen verschiedenen Figuren. Puls bestreitet den Auftakt quasi allein; es dauert 40 Minuten, bis ihr Kollege den ersten Satz sagt. Und doch hat er zuvor durch seine Präsenz bereits viel über seine Figur erzählt. Die beiden machen diese zwei Stunden zu einem Schauspielfest. Trotz der Intensität gelingt es ihnen zudem stets, Kennedys Sprache sehr überzeugend zu gestalten.
Verwoben werden die Biografien ihrer Figuren auf der akustischen Ebene: Peter Pichler begleitet die Produktion an seinem Mixturtrautonium, das an der Bühnenseite steht. Das elektronische Instrument, das zwar an eine Orgel erinnert, aber näher an der indischen Sitar oder der arabischen Oud ist, kommentiert das Geschehen, charakterisiert Typen und Szenen, sorgt wie bei einem Stummfilm für die Geräuschkulisse, um dann wieder zum aktiven Mitspieler zu werden. Ein Erlebnis.
Am Ende interpretieren Anna und Buster behutsam „A rainy Night in Soho“ von den Pogues. Dort heißt es „We may never find out, what it means/ Still there’s a Light I hold before me.“ Ein Licht, in dem die Hoffnung auf Barmherzigkeit glimmt. Langer, heftiger Jubel.
Nächste Vorstellungen
am 31. Januar sowie am 4. und 18. Februar; Telefon 089/ 233 966 00.