Und noch ein kleiner Mann ganz groß, auch er mit rotem Haar, auch er aufgeweckt – und doch ist dieser Lemmel um einige Jährchen älter als Wickie (siehe Artikel oben). Die Tatsache, dass Jung und Alt nun wieder seine anrührenden Streiche und herrlichen Abenteuer („Wie Lemmel die Milch rettet“!) nachlesen können, ist umtriebigen Forscherinnen und einer engagierten Verlegerin zu verdanken. Ein Glücksfall für alle Freunde von Poesie – und von Lausbubengeschichten.
Tollpatsch Lemmel ist eine Figur des jiddischen Autors Leyb Kvitko, der irgendwann zwischen 1890 und 1895 in einem Kaff bei Odessa geboren wurde. Exakt belegt ist indes der Tag seines Todes: Nach einem zweimonatigen Geheimprozess wurde er am 12. August 1952 gemeinsam mit anderen Intellektuellen vom sowjetischen Regime hingerichtet. Kvitko war 1925 nach Aufenthalten in Berlin und Hamburg in die UdSSR zurückgekehrt, wo er zunächst Karriere machen konnte. Im Jahr 1929 werden seine Spottgedichte im Magazin „Die rote Welt“ jedoch als antikommunistisch gelesen, ihr Urheber fällt (vorübergehend) in Ungnade. Er arbeitet in einer Fabrik, wendet sich wieder verstärkt der Kinderliteratur zu – und zählt Ende der Dreißiger zu einem der bekanntesten Kinderlyriker des Landes. Die Erschießungen 1952 im Moskauer Gefängnis Lubjanka, zu deren Opfern Kvitko und seine Kollegen zählen, werden später als „Nacht der ermordeten Dichter“ in die Geschichte eingehen.
Bereits im Jahr 1919 hatte der Autor seinen Dreikäsehoch auf die (Bücher-)Welt gebracht. Lemmels Name leitet sich ab vom jiddischen „lam“, also Lämmchen. Der Bub ist halt einfach ein liebenswertes Kerlchen, das das Leben erkundet. Ein Leben übrigens, das nichts weiß vom Massenmord an Europas Juden. Lemmel ist also auch Zeuge einer längst vernichteten Welt.
Caroline Emig und Sabine Koller sind während ihrer Kvitko-Forschungen zum Thema „Ein jiddischer (Kinderbuch-)Autor zwischen jüdischer und sozialistischer Revolution“ auf Lemmel aufmerksam geworden. Ihr Fund begeisterte auch Myriam Halberstam, die Gründerin des Ariella Verlags. Sie hat die sechs Gedichtzyklen nun in einer ansprechend gestalteten deutsch-jiddischen Ausgabe herausgebracht. „Welch eine Kombination kommt hier zusammen“, freut sich die Verlegerin. „Ein Dichter aus einer untergegangenen Welt, eine Sprache, die am Aussterben ist, Kinderlyrik, die von einer Zeit vor dem großen Grauen – der Schoa – lebenslustig, spitzbübisch und unbeschwert erzählt.“ Die israelische Illustratorin Inbal Leitner hat die Abenteuer charmant bebildert, ein umfassendes, historisch fundiertes Nachwort ordnet Autor und Werk anschaulich in die Weltgeschichte ein.
Lemmel selbst freut sich derweil, dass er sturmfrei hat: „Mames Kopftuch wird zum Ball,/ hui, wie hoch der fliegt,/ bis er – hast du nicht gesehen –/ auf dem Kachelofen liegt.“ Was er außerdem auf dem Ofen entdeckt? Ach, lesen Sie am besten selbst.
Leyb Kvitko/Inbal Leitner:
„Tollpatsch Lemmel“. Ariella Verlag, Berlin,
48 Seiten; 18 Euro.