Game Oper

von Redaktion

Das Staatstheater Augsburg bietet Arnold Schönbergs „Erwartung“ als Videospiel

VON MARKUS THIEL

Irgendwann hält man ihn in den Händen. Den toten Geliebten, den die namenlose Frau dieser Oper betrauert. Man kann den Kopf zu sich heranziehen, den Körper drehen und stellt entsetzt fest: Blut tritt aus den Augen. Oder regnet es die Tropfen? Und das Verblüffendste: All dies ist nicht wirklich. Es passiert in einer parallelen Realität, für die man Kopfhörer und eine VR-Brille aufsetzen muss. Digital-Nerds kennen das längst von ihrer Spielkonsole, wenn sie sich durch wilde virtuelle Welten zocken und Aufgaben lösen müssen. Doch Oper als Videospiel, das ist neu. Das Staatstheater Augsburg ist weltweiter Vorreiter darin – und Arnold Schönbergs 1909 uraufgeführte „Erwartung“, diese halbstündige „Mono-Oper“, das perfekte Stück dafür.

Bis man auf die Leiche stößt, hat man einen längeren Weg hinter sich. Durch einen Düsterwald, den nur der Mond erhellt. Der Spieler schlüpft in die Rolle der singenden Frau. Man spürt förmlich den wippenden, unruhigen Gang durchs Dunkel. Wer den Kopf dreht, erlebt eine 360-Grad-Animation. Und wer den Film „Blair Witch Project“ kennt, schaut sich erst recht öfter um: Wird man in diesem Wald von namenlosen Gefahren verfolgt? Gelegentlich stoppt man auf Lichtungen, wo die Musik unterbrochen wird: Ab jetzt darf man spielen.

Für Neulinge mag es nicht ganz einfach sein, sich nun zu drehen, sich fortzubewegen, vor allem aber herauszubekommen, was man an dieser Stelle erledigen muss. Einen Pilz essen? Oder die Tür der geheimnisvollen Villa öffnen? Oben angekommen drückt man vergeblich auf die Knöpfe der Steuerungseinheit – es war ein Irrweg. Die Entwickler der Firma Heimspiel, diese Augsburger „Kreativagentur für Digitales“, haben für solche Fälle eine Einführung programmiert. Bei der öffentlichen Präsentation in Augsburg stehen einem Helfer zur Seite.

„Wir sollten und wollten die Sache so einfach wie möglich halten“, sagt Frank Patzke von Heimspiel. Seine Firma musste einen Spagat machen: „Erwartung“ soll die klassischen Videogamer befriedigen, aber auch das klassische Opernpublikum. Letzteres braucht für das Schönberg-Experiment einen halbwegs neuen Computer, vor allem aber VR-Brille und Konsole. Dann muss „Erwartung“ nur noch bei Steam, der Standard-Plattform für Videospiele, gekauft und geladen werden – und los geht’s mit dem schauerlichen Fall.

Schönberg schildert eine durch den Wald irrende Frau auf der Suche nach ihrem Geliebten. Bald entdeckt sie seine Leiche. Das ist auch im Videospiel so. Doch wer die Aufgaben löst, gerät in eine psychedelische Landschaft aus pilzförmigen Riesenelementen, schließlich auf den Platz einer Großstadt – mit einem überraschenden Ende. Mehr sei hier nicht verraten.

Hinter der Spielerei steckt der Augsburger Intendant André Bücker. 2020 hat er erstmals mit der Firma Heimspiel Digitales in eine Opernaufführung implantiert: Auf Kommando musste man bei Glucks „Orfeo ed Euridice“ eine VR-Brille aufsetzen und flog durchs neongrüne Arkadien oder durch die flammende Unterwelt. Im Corona-Lockdown wurden volldigitale Produktionen entwickelt, für die man sich Brillen nach Hause schicken lassen konnte. An Bückers Haus gibt es mittlerweile eine eigene Sparte für Digitales. „Mich interessiert kein nur abgefilmtes Theater“, sagt er, der auch „Erwartung“ inszenierte – wenn man das überhaupt so nennen kann. „Ich finde es spannend, was im Kopf dieser singenden Frau vorgeht und mit welchen Traumlogik-Elementen man dabei spielen kann.“

Die Interaktivität, also das Eingreifen ins Stück wie in „Erwartung“, ist Bückers weiterer großer Schritt ins Digitale. Eingespielt wurde der „Soundtrack“ im Augsburger Kongress am Park mit den dortigen Philharmonikern, Dirigent Domonkos Héja und Sally du Randt. Musikalisch ist das, dies an Adresse der Opern-Nerds, vom Allerfeinsten: Diese Sopranistin singt so ausdrucksintensiv und kristallwasserklar, dass man jedes Wort versteht. Irgendwann begegnet man auch ihrem digital animierten Ebenbild. Und was dieses tut, ist nicht gerade angenehm… Wie viel die zweijährige Entwicklung von „Erwartung“ gekostet hat, mag Intendant Bücker nicht sagen. „So viel wie eine normale Opernproduktion.“ Er will nun abwarten, wie sein Videospiel angenommen wird und ob damit neue Publikumsschichten erschlossen werden. Was nicht heißt, dass die Augsburger Digitalsparte nun pausiert: Für die kommende Spielzeit kündigt Bücker eine Opern-Uraufführung „als digitales Musiktheater mit interaktiven Komponenten“ an.

Wer sich nicht ganz dumm anstellt, verbringt etwa eine Stunde im Wald und in der Glitzermetropole der Augsburger „Erwartung“. Warum der Geliebte des Stücks starb, das bleibt im Ungefähren – man kann sich aber seinen Teil denken. Und zu gewinnen gibt es gar nichts. Ganz im Gegenteil.

Das Videospiel

kann gekauft und heruntergeladen werden bei https://store.steampowered.com;

öffentliche Vorstellung am 17. Februar im Gaswerk Augsburg, Karten unter Telefon 0821/324 49 00.

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