Der Sündenfall seiner Familie ereignete sich 1919. Als die Großmutter ins Kinderzimmer ihres Sohnes ging, eine Pistole unter dem Bett hervorholte, um mehrere tödliche Schüsse auf ihren Ehemann abzugeben. Die Täterin wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen, der Sohn und spätere Vater von Paul Auster war fortan traumatisiert. Nach dem Umzug von Kenosha im US-Bundesstaat Wisconsin nach Newark wuchs dieser gebrochene Mann in einer kaputten Familie auf. In „brutaler Armut“, wie es Paul Auster formuliert.
Und dabei ist seine Familiengeschichte, die der Bestseller-Autor in seinem neuen Buch aufflackern lässt, kein Einzelfall. Sie gehört zum schlechten Ton einer Nation, in der der Schusswaffengebrauch zum Allerheiligsten und Selbstverständnis zählt. „Bloodbath Nation“ ist also ein etwas anderes Buch von Paul Auster. Seine Schrift über das alltägliche amerikanische Blutbad, das er zu verstehen versucht, ist Auster pur und unplugged. Keine scharf- und hintersinnige Analyse der US-Gesellschaft mittels Romanfiguren. Keine Selbstbespiegelung über den Umweg der Fiktion. Aber auch keine wütende, verzweifelte Anklage: „Bloodbath Nation“ ist ein Essay. Nüchtern, lakonisch, sachlich, wie schulterzuckend geschrieben – und damit letztlich pessimistisch.
Im Jahr der drohenden Wiederwahl von Donald Trump kommt dieses Buch gerade recht. In einem Amerika, das sich an der größten Wegscheide seiner Geschichte seit den Unabhängigkeitskriegen befindet, möchte der schwer kranke Paul Auster Laut geben. Und die bekannte Statistik, die auch er anführt, spricht mehr als genug für dieses Buch. Amerikaner haben eine 25 Mal höhere Chance, angeschossen zu werden als Bürger in anderen hochentwickelten (?) Ländern. 82 Prozent aller Todesfälle durch Schusswaffen werden von Amerikanern verübt. Pro Jahr sterben rund 40 000 Amerikaner durch Schussverletzungen. Ein Wahnsinn, der fest mit diesem Land verknüpft ist. „Es ist Amerikas neuestes Geschenk an die Welt“, schreibt Auster. „Eine psychopathische Fußnote zur früheren Wunderdingen wie Glühbirne, Jazz oder dem Impfstoff gegen Polio.“
Auster hat das Buch nicht allein konzipiert. Abgedruckt sind eine Reihe bestechend nüchterner Bilder des Fotografen Spencer Ostrander. Sie zeigen Schauplätze von Amokläufen – allerdings lange nach den Taten. Parkplätze vor Supermärkten, Kirchen, Rathäuser, Schulklassen. Leere, saubere, menschenlose Motive, die von Verdrängung künden und zugleich ein blutiges Kopfkino provozieren.
Dabei erging es Auster nicht anders als Millionen anderer Kinder. Die Verkleidung als Cowboy, die Westernfilme: „Ich hatte an diesen Gemetzeln genauso viel Spaß wie alle anderen.“ Und trotzdem wurde er kein Amokläufer – weil bei ihm und seiner Familie, so schwingt unausgesprochen mit, Reflexionen Schlimmeres verhinderten.
Das Recht auf Waffe, so beschreibt Auster, gehört zum Gründungsmythos seiner Nation. Wo sich einst Siedler auf ein angeblich Gott gegebenes Recht zur Landnahme (und zur Verteidigung) beriefen, ist die Waffe Haushaltsbestandteil bis heute. Lebenslügen inklusive: Thomas Jefferson, Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, verdammte die Sklaverei – und verwaltete doch ein Gut mit 600 Leibeigenen, wie Auster kühl konstatiert.
Also ein Waffenverbot? „Wer auf einer Geburtstagsparty an 20 Kinder Streichhölzer verteilt, muss damit rechnen, dass das Haus in Flammen aufgeht.“ Da wird Auster also doch zynisch: Im Falle des Autos, auch so ein Fetisch nicht nur in den USA, habe es schließlich funktioniert. Verkehrsregeln verhindern Tote – merkwürdigerweise ist das auch in Deutschland, dem Land ohne Tempolimit, nicht in alle Hirne vorgedrungen.
„Bloodbath Nation“ ist also nicht unbedingt ein Buch nur über die USA. Es ist ein Essay, der auch von einem seit jeher geteilten, unversöhnlichen Land handelt. Eine Nation, in der sich „eine namenlose, formlose Wolke des Missbehagens über alle Bereiche der Gesellschaft legte“. Eine Wolke, die auch in Europa wirkt, wo sich Trumps politisch Verwandte von der Unzufriedenheit der Menschen nähren – um sie zugleich, auch übrigens dank der Medien, zu mehren.
Eine Lösung sieht Auster nicht in der Konfrontation, die nur Gräben vertieft. „Frieden wird es erst geben, wenn beide Seiten ihn wollen.“ Ein hehrer Grundsatz, womöglich der einzige Ausweg. Nicht umsonst zitiert Auster dazu einen häufigen Satz seiner Mutter: „Träum weiter, Paul.“
Paul Auster:
„Bloodbath Nation“. Mit Fotos von Spencer Ostrander. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt, Hamburg, 192 Seiten; 26 Euro.