Raus aus der Diktatur

von Redaktion

Uwe Wittstock legt heute „Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ vor

VON ULRIKE FRICK

Seit 1997 gibt es nahe dem Potsdamer Platz in Berlin eine Varian-Fry-Straße. An der gleichnamigen Bushaltestelle findet sich eine Gedenktafel mit einem Foto des 1907 geborenen Mannes, der mehr als 2200 Menschen vor den Nazis retten konnte. Doch darüber hinaus ist Fry längst einer der vergessenen Helden im Widerstand gegen die Diktatur. Selbst die sehenswerte Netflix-Serie „Transatlantic“ konnte daran wenig ändern. Jetzt setzt der Autor Uwe Wittstock dem US-Reporter ein würdiges Denkmal.

Wittstock, ehemaliger Literaturchef des „Focus“, zeichnete in „Februar 33: Der Winter der Literatur“ (wir berichteten) das Schicksal von Literaten wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin oder Thomas Mann unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten sehr lebendig nach. So sehr, dass man sich beim Lesen des akribisch recherchierten Sachtexts wie in einem Krimi wähnte. „Ein Tatsachenmosaik“ nannte Wittstock die 2021 erschienene Chronik. Seine Arbeitsweise ist nun ähnlich: Elegant kombiniert er in „Marseille 1940“ Dokumente, Briefe und private Aufzeichnungen zu einem aufwühlenden Sachbuch-Thriller.

Mitte Juli 1935 sitzt der junge Fry, der für eine Reportage über Nazi-Deutschland aus den USA gekommen ist, in einem Restaurant am Kurfürstendamm. Plötzlich bricht die Hölle los: eine üble Straßenschlägerei mit lautstark gebrüllten antisemitischen Parolen. Schockiert berichtet Fry davon an die heimatliche „New York Times“. Wie grauenhaft tatsächlich sein wird, was auf Juden und alle Andersdenkenden zukommen soll, erfährt der Reporter kurz darauf im Gespräch mit Ernst Hanfstaengl, dem Auslandspressechef der NSDAP. Hanfstaengl nimmt dem ehemaligen Harvard-Kommilitonen gegenüber kein Blatt vor den Mund. Entsetzt reist Fry wieder ab. Doch die Sorge bleibt – bis Juni 1940.

Gemäß dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Deutschland und Frankreich waren die Franzosen verpflichtet, der Gestapo alle Personen auszuliefern, die auf deren Fahndungslisten zu finden waren. Ein pikanter Punkt, da seit 1933 Heerscharen von jüdischen Intellektuellen und politisch Verfolgten vor Hitler auf der Flucht waren und auf den Straßen in Städten wie Paris oder Marseille immer öfter Deutsch gesprochen wurde. Fry reist nun nach Marseille, um nach Absprachen mit der US-Regierung so vielen Flüchtlingen wie möglich zur Ausreise in die USA zu verhelfen.

Mit einer zuvor gegründeten Hilfsorganisation gelingt ihm die Rettung Tausender. Die Liste derjenigen, die dank seiner Hilfe emigrieren konnten, liest sich wie das Who’s who der geistigen Elite Deutschlands, von Hannah Arendt bis Anna Seghers, von Lion Feuchtwanger über Heinrich Mann, Leonhard Frank und Walter Mehring bis Franz Werfel.

Seit fast zehn Jahren erscheinen regelmäßig Bücher, die ein historisches Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben. Daraus lassen sich im Idealfall wie bei Florian Illies’ „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“, bei Volker Weidermanns „Ostende 1936. Sommer der Freundschaft“ oder eben Wittstocks „Februar 33“ neue Kontinuitäten zwischen längst bekannten Ereignissen erkennen. Im Gegensatz zu einzelnen Personen oder Begebenheiten, die bis vor etwa 20 Jahren die populäre Geschichtsschreibung dominierten, geht es jetzt mehr um Verbindungen, ums große Ganze.

Wittstock ist ein kluger Geschichtenerzähler und geistreicher Plauderer. In „Marseille 1940“ verwebt er die sorgfältig aufbereitete Faktenfülle mit originellen Anekdoten wie jenen über Feuchtwangers bewegtes Liebesleben oder anrührenden wie den Freitod von Ernst Weiß. Kurzum: Ein wunderbar lesbares Stück Zeitgeschichte, umsichtig und spannend erzählt, das Lust macht auf jede Menge literarischer (Wieder-)Entdeckungen.

Uwe Wittstock:

„Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“. C. H. Beck, München, 352 Seiten; 26 Euro.

Lesung: Uwe Wittstock stellt sein Buch am 5. März, 19 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten unter Telefon 0761/888 49 999 oder online unter literaturhaus- muenchen.reservix.de.

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