Menschen, die mit dem Leben hadern. Das ist einer der großen Schwerpunkte dieser Berlinale. Zum Beispiel in Matthias Glasners Drama „Sterben“ mit Corinna Harfouch und Lars Eidinger. Der Film über eine zerrüttete Familie ist neben 19 weiteren Wettbewerbsbeiträgen im Rennen um den Goldenen Bären bei den Filmfestspielen. An diesem Samstag verkündet die Jury, welche Filme und Leistungen geehrt werden. Jurypräsidentin Lupita Nyong’o und ihre Kollegen haben dafür in den vergangenen Tagen fast vierzig Stunden lang Filme geschaut. Viele der Beiträge sind auch politisch aufgeladen. Sie weisen über die Einzelschicksale hinaus und spiegeln so gesellschaftliche Probleme.
Bei den Schauspiel-Preisen unterscheidet die Berlinale nicht mehr nach Geschlecht, sondern vergibt je einen Silbernen Bären für die beste Leistung in einer Haupt- und in einer Nebenrolle. Harfouch hat in ihrer Rolle als kaltherzige Mutter in „Sterben“ gute Chancen auf diesen Preis, bekommt aber starke Konkurrenz. Zum Beispiel von Liv Lisa Fries, Protagonistin in Andreas Dresens Drama „In Liebe, Eure Hilde“. Fries spielt Hilde Coppi (1909-1943), eine Widerstandskämpferin in der NS-Zeit. Hoch im Kurs ist auch Lily Farhadpour. Sie spielt in der iranischen Tragikomödie „Keyke mahboobe man“ („Mein Lieblingskuchen“) eine Seniorin, die in Teheran ihr Liebesleben wiederentdeckt.
Verdient hätten es zudem Nina Mélo in der melancholischen Liebesgeschichte „Black Tea“, Rooney Mara in der Sozialstudie „La Cocina“ und Salha Nasraoui im Drama „Mé el Aïn“. Auch Raúl Briones Carmona in „La Cocina“ oder Oscar-Favorit Cillian Murphy im Berlinale-Eröffnungsfilm „Small Things like these“ haben allerdings gute Aussichten.
Kurz vor dem Finale des Filmfestivals wurden die Spekulationen um den Favoriten für den Goldenen Bären noch einmal durcheinandergewirbelt – mit der späten Premiere von „Mé el Aïn“. Das Drama von Regisseurin Meryam Joobeur erzählt in einer starken, künstlerisch überhöhten Bildsprache vom Leben einer tunesischen Bauernfamilie im Schatten von Krieg und Terrorismus. Das menschlich packende Epos dürfte wegen seiner gestalterischen und zugleich politischen Stärke starke Chancen bei der Jury haben.
Auch für den Dokumentarfilm „Dahomey“ über die Rückgabe von aus Afrika geraubten Kunstschätzen stehen die Chancen gut. Die französische Regisseurin Mati Diop mischt sich in aktuelle gesellschaftliche Diskussionen ein und fesselt mit poetischen Passagen – zum Beispiel spricht mehrmals eine der Statuen aus dem Off zu den Zuschauern.
„Keyke mahboobe man“ von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha könnte ebenfalls für die Juroren interessant sein. Vordergründig scheint es ein Film zu sein, der über die Liebe und Selbstbestimmung im Alter nachdenkt. Doch die Geschichte einer Witwe beeindruckt und berührt zugleich als Bild einer Gesellschaft, in der Frauen permanent unterdrückt werden. Das iranische Regie-Duo war von iranischen Behörden an der Ausreise nach Berlin gehindert worden.
Auch der österreichische Beitrag „Des Teufels Bad“, ein morbides Psychogramm von Veronika Franz und Severin Fiala mit Anja Plaschg in der Hauptrolle, schnitt bei der Kritik gut ab. Für den Großen Preis der Jury kommt ein deutscher Regisseur infrage – hier ist Dresens „In Liebe, Eure Hilde“ im Rennen. Denkbar ist aber auch, dass die Jury dem skurrilen Kammerspiel „Yeohaengjaui pilyo“ („Die Bedürfnisse des Reisenden“) des südkoreanischen Regisseurs Hong Sang-soo erliegt. Die französische Star-Schauspielerin Isabelle Huppert verkörpert dort eine Frau, die versucht, sich in Südkorea als Französischlehrerin über Wasser zu halten. Den Regiepreis könnte Claire Burger mit der Coming-of-Age-Geschichte „Langue Étrangère“ rund um einen deutsch-französischen Schülerinnenaustausch erhalten. Doch wie immer gilt: Was dem einen gefällt, lehnt die andere ab. Und: Jurys sorgen gerne für Überraschungen.