Giftige Bonbons?

von Redaktion

Das Architekturmuseum hinterfragt den Nutzen geschenkter Bauwerke

VON KATJA KRAFT

Für Temuulen Enkhbat ist das keine Politik. Für Temuulen Enkhbat ist es ihr Zuhause. Die junge Mongolin ist eine der vielen Bewohnerinnen der sogenannten Ger-Distrikte in Ulaanbaatar. Einst waren diese Wohnsiedlungen ein Geschenk der Sowjets an die Mongolei. Für westliche Verhältnisse sehr einfache Parzellen. Für Enkhbat und ihre Verwandtschaft: ein großes Glück. Strahlend steht sie im Architekturmuseum der TU München in einer Holzkonstruktion der neuen Ausstellung „The Gift“. Die Fläche ist exakt so groß wie das Wohnzimmer ihrer Familie in der Mongolei. An Schautafeln hängen Fotos ihrer Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel. Zusammengerückt sitzen sie am Esstisch. „Es ist nicht riesig, aber es ist unser Zuhause. Meine Mutter sagt immer: Egal, was in der Welt passiert, wenn du ein Dach über dem Kopf hast, unter dem du jederzeit Zuflucht finden kannst, ist alles gut.“

Enkhbat ist mit ihrer Kollegin Uurtsaikh Sangi nach München gekommen, um ihr Forschungsprojekt von GerHub vorzustellen, einem gemeinnützigen Unternehmen, das sich mit den dringendsten Problemen in den Ger-Distrikten befasst. Denn war es auch einst als Geschenk gemeint: Was wird eigentlich aus Bauten wie diesen, wenn die Zeit der Schenker, in diesem Fall die der Sowjetunion, vorüber ist? Weil die Menschen in den mongolischen Siedlungen in einfachen Eisenöfen Rohkohle zum Kochen und Heizen verbrennen, ist beispielsweise die Luftverschmutzung gerade im Winter sehr hoch.

Es sind spannende Fragen, die die Kuratoren Damjan Kokalevski und Lukasz Stanek in der Schau aufwerfen. Der Titel „The Gift“ heißt „Geschenk“ – doch wie viel Gift steckt auch in solchen Gaben? Architektonische Schenkungen gibt es häufig: Wohlhabende Philanthropen finanzieren Bibliotheken, humanitäre Organisationen spenden Notunterkünfte, landwirtschaftliche Betriebe werden durch Entwicklungshilfegelder gefördert. „Viele dieser Bauten sind wirklich nützlich und werden von den Gemeinschaften angenommen“, betont Museumsdirektor Andres Lepik. Doch die Gefahr des Machtgefälles zwischen Schenkendem und Beschenktem sei immanent; die Kopplung von wirtschaftlichem Gewinn oder politischem Einfluss an eine scheinbar selbstlose Gabe. Anhand von Beispielen aus vier Kontinenten erzählt die Ausstellung von der wohltätigen und der gewalttätigen Dynamik des Schenkens.

Und hier zeigt sich wieder der segensreiche Umstand, dass das Architekturmuseum der Technischen Universität angegliedert ist. Die Fälle aus Ghana, Nordmazedonien, den USA und der Mongolei basieren auf Fallstudien, die lokale Forscherinnen und Forscher vor Ort erarbeitet haben. In stetem Austausch mit den Studierenden aus München ist eine Schau entstanden, die einen die nicht immer segensreiche Entwicklungsförderung hinterfragen lässt. Naturgemäß sehr textlastig ist diese von der Wissenschaft geprägte Ausstellung. Auf Handzetteln findet man sämtliche, meist auf Englisch gehaltene Texte in deutscher und in leichter Sprache. Alles genau zu lesen, lohnt.

Zum Schluss warten dann noch Beispiele aus Deutschland. Die sind mitunter zum Schmunzeln. Wie der kleine Garten an der Berliner Mauer. Die wich an einer Stelle von der tatsächlichen Grenze ab und hinterließ ein 350 Quadratmeter großes Stück DDR-Land auf der Westseite – unzugänglich für Ostdeutschland. Die westdeutsche Regierung ließ das Grundstück verkommen. Also entschied sich 1982 der Pensionist Osman Kalin, das vernachlässigte Land in einen Garten zu verwandeln. Die DDR-Grenztruppen gewährten ihm teilweise Nutzungsrechte. Als die Westberliner Polizei seine Räumung verlangte, erklärte Kalin, das Land sei ein Geschenk, und erhielt volle Nutzungsrechte von der NVA. „Onkel Osman“ wurde in Kreuzberg zur Institution, lieferte den Studenten Selbstangebautes und ließ sie in seinem Garten lernen. 2004 wurde das Land an den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg übertragen, Kalin erhielt lebenslange Nutzungsrechte. 2018 verstarb er 92-jährig. Sein Garten ist heute eine Touristenattraktion. Geschichten, die uns das Leben schenkt.

Bis 8. September

im Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne; täglich (außer Mo.) 10 bis 18, Do. bis 20 Uhr.

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