Freuds Tochter

von Redaktion

Tom Sallers Roman „Ich bin Anna“

VON KLAUS RIMPEL

Der Zoologe Konrad Lorenz, der ermordete Mafia-Jäger Giovanni Falcone, Charles Darwin – Romane über berühmte Persönlichkeiten haben Konjunktur. Der Reiz solcher teilweise fiktiven Geschichten ist, dass der Leser in den Kopf der historischen Figuren kriechen kann. Und so den Berühmtheiten näher kommt als in oft spröden, streng wissenschaftlich mit Quellen arbeitenden Biografien. Der Psychotherapeut und Autor Tom Saller, der schon in seinem erfolgreichen Erstling „Wenn Martha tanzt“ ein Frauenschicksal aus den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts lebendig werden ließ, setzt nun in seinem Roman „Ich bin Anna“ der Tochter Sigmund Freuds ein Denkmal. Aber indem er jedes Geschehen sowohl aus der Sicht Anna Freuds als auch aus Sicht ihres Vaters schildern lässt, entsteht wie nebenbei ein facettenreiches Porträt des Begründers der Psychoanalyse.

Saller verknüpft reale Zitate und Ereignisse geschickt und locker mit seiner erfundenen Handlung um den fiktiven Patienten Stadlober. Dieser glühende Patriot mit prügelndem Vater erleidet im Schützengraben des Ersten Weltkriegs eine zeitweilige Erblindung, für die es keine physische Erklärung gibt. Der berühmte Wiener Doktor soll ihn heilen. Freud, der seine Tochter in einer „Lernanalyse“ anleiten will, sein Lebenswerk fortzuführen, macht Stadlober zum gemeinsamen Studienobjekt. Doch Anna beginnt heimlich eine kurze, schwierige Beziehung mit Stadlober. Als 20 Jahre später die Nationalsozialisten in Wien die Macht übernehmen und der prominente Jude Freud um sein Leben bangen muss, kommt es zu einem dramatischen Wiedersehen mit dem einstigen Patienten.

Saller hält sich wohltuend mit allzu offensichtlichen Parallelen zurück – aber natürlich kommt dem Leser bei der Figur Stadlobers Adolf Hitler in den Sinn, der ebenfalls in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erblindete und sich als von der Niederlage enttäuschter Patriot in Wien radikalisierte. So bietet der Roman nicht nur einen ebenso unterhaltsamen wie lehrreichen Einblick in die Entwicklung der Psychoanalyse. Die Geschichte wird auch zur zeitlosen Parabel darüber, wie Menschen zu Rassisten und Nazis werden.

Tom Saller:

„Ich bin Anna“. Kanon Verlag, Berlin, 255 Seiten; 24 Euro.

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