Mit diesem Gegenwind zu ihrer Grundschul-Reform hat die Bayerische Staatsregierung nicht gerechnet. Es sei „schlichtweg falsch“, dass Musik, Kunst und Werken an den Grundschulen in einem Gemeinschaftsfach zusammengelegt werden, betonte gestern Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler). Außerdem könne jedes dieser Fächer weiter mit genauso vielen Stunden wie bisher unterrichtet werden. Nicht nur die Kann-Formulierung weckt jedoch Argwohn. Auch bei Bariton Christian Gerhaher, der deutliche Worte zu den Plänen findet.
Auch wenn laut Ministerin die drei Fächer erhalten bleiben, ist klar, dass mehr Deutsch und Mathematik unterrichtet werden sollen bei konstanter Gesamtstundenzahl. Das bedeutet: Irgendwo muss ja gekürzt werden. Was befürchten Sie nun?
Ich befürchte, dass der Freistaat seiner Verantwortung für den Kulturauftrag, der ja an prominenter Stelle in der Verfassung steht, immer weniger nachkommt. In der Pandemie hat sich das schon in diese Richtung bewegt. Und die Zeichen verdichten sich immer weiter. Außerdem ist es für uns Künstlerinnen und Künstler, die ja nicht die Pflicht haben, darüber zu wachen, eine Zumutung, sich ständig dagegen aussprechen zu müssen. Es ist wahnsinnig schwierig, sich mit einem Staat, der ja die Finanzierung der Künste zu gewährleisten hat und trotzdem so subversiv handelt, in dieser Weise massiv auseinandersetzen zu müssen.
Hinter der aktuellen Entwicklung in den Grundschulen steht also eine grundsätzliche Haltung?
Ja, natürlich. Genau das Gegenteil von der aktuellen Entwicklung wäre richtig: Ich finde, dass die sogenannten Kreativfächer vielmehr gestärkt werden müssten. Die Erziehung in unserem Bundesland geht aber seit Langem immer mehr in die Richtung, Kompetenzen auf Kosten von Kreativität zu vermitteln. Kompetenzen in Regelfächern, also das Erlernen von beispielsweise mathematischen oder grammatikalischen Regeln, sind zweifellos wichtig. Aber sie müssen von künstlerischen Fächern begleitet werden, um den kreativen Output der Bevölkerung zu stärken. Auch, um die Regelfächer immer wieder zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Und wenn man gerade kleinen Kindern nicht beibringt, sich offen kreativ zu äußern, wird’s danach umso schwerer.
Sind die jüngsten Äußerungen der Ministerin nur eine Beruhigungspille?
Ich sehe das als Versuch, den ziemlich einhelligen und entsetzten Protesten Wind aus den Segeln zu nehmen. Ich sehe es aber nicht als wirkliche Umkehr, und genau das müsste passieren. Nicht nur eine Umkehr zum Status quo ante, sondern zu einer wirklichen Verbesserung der kulturellen Erziehung – und eben nicht zu einer Aufweichung.
Wenn die Gesamtstundenzahl nicht ausgeweitet werden soll: Wo müsste man kürzen?
Es tut einem das Herz weh, wenn man sagt, man müsste an das Fach Englisch herangehen. Ich glaube aber verstanden zu haben, dass die Lehrer an fortführenden Schulen sagen, sie müssten in der fünften Klasse sowieso wieder von vorn mit dieser Sprache beginnen. Insofern sei der Effekt des Englischunterrichts in den Grundschulen gar nicht so hoch einzuschätzen. Das Zweite ist: Durch die Verfügbarkeit von Filmen auf Englisch und in anderen internationalen Medien ist etwas entstanden, das es in unserer Jugendzeit nicht gab. Nämlich ein fast automatisches Vertrautwerden mit dieser Sprache, wie man es von anderen Staaten wie Dänemark oder den Niederlanden schon seit Langem kennt, wo zum Beispiel Filme fast nicht synchronisiert werden. An Englisch würde ich also rangehen. Und unbedingt auch an Religion. In einem Land, das zwar kein laizistisches ist wie Frankreich, aber ein säkulares, ist die Trennung von Religion und Staat zu wenig vorhanden. Das hat sich in der Pandemie extrem gezeigt. Die Kirchen wurden geschont, während die Theater, Konzertsäle und Museen zugesperrt wurden. Die Religion, aber das ist meine persönliche Meinung, müsste in ihrer Sinnhaftigkeit als Lehrfach überdacht werden. Es ist ein Kardinalfehler, ja eine Erbsünde, nicht Philosophie zu unterrichten. Diese verkörpert historisch gesehen einen der stärksten historischen Momente Deutschlands. Ich finde übrigens auch, dass die Stundenzahl an den Grundschulen insgesamt erhöht werden müsste, das ist in anderen europäischen Ländern ja auch der Fall.
Sie sind selbst Vater. Wie haben Sie den Musikunterricht Ihrer Kinder erlebt?
Ich habe beobachtet, dass dieser Unterricht unkalkulierbar war. Manche Lehrer können das, da war er großartig. Andere haben ihn vollkommen unter den Tisch fallen lassen. Und so etwas darf überhaupt nicht passieren. Die Kompetenz gerade im Musikunterricht ist so schwer zu erlangen. Den müssten daher auch in der Grundschule Fachlehrer übernehmen.
Nun gibt es massive Kritik an Bayerns Schulplänen. Sind Sie optimistisch, dass die Entscheidungsträger doch noch umdenken?
Ich bin zutiefst pessimistisch. Weil ich die geradezu schamlosen Versuche der Bayerischen Staatsregierung seit Jahrzehnten, die Kultur als etwas Obsoletes, als „Salz auf der Breze“ zu charakterisieren, verheerend finde. Das mag alles Ausdruck einer persönlichen Empfindung sein, aber davon darf sich ein Politiker nicht leiten lassen. Sondern davon, dass er den Kulturauftrag, wie er in der Bayerischen Verfassung formuliert ist, weiterhin verfolgt und erfüllt.
Sie haben einmal gesagt, eine solche Haltung sei gerade die Folge eines zu kritisierenden Bildungssystems.
Ja. Und ich glaube, dass sich die erste Generation von Politikern, die aus diesem Bildungssystem stammt, gerade betätigt. Aber noch einmal: Deren eigener Horizont, den ich mir selbstverständlich nicht zu kritisieren anmaße, darf nicht den Horizont dessen bestimmen, was eine Schule zu leisten hat. Es ist doch kein Wunder, dass auch die Kompetenz der Unterrichtenden immer mehr abnimmt. Das liegt unter anderem an der universitären Vermittlung im Bereich der Geisteswissenschaften. Auch sie wird immer mehr ausgehöhlt.
Nun ist Deutschland aber nur im Pisa-Mittelfeld. Woher rührt das?
Das kann ich nicht beurteilen. Aber immerhin ist man nicht ganz unten. Deutschland muss nicht immer der Erste sein. Das Land ist in vielen Dingen großartig, und dazu gehört die Kultur. Das darf man nicht preisgeben. Unter Ministerpräsident Edmund Stoiber gab es diese Haltung, immer vorn dran sein zu müssen und etwa die jüngsten Studierenden zu haben. Das hat zu verheerenden Ergebnissen geführt. Das G12 an den Gymnasien war ein totaler Fehlschlag. Was dabei kaputtgegangen ist, musste mit großem, auch finanziellem Aufwand repariert werden. Solche Dinge können wir uns nicht leisten. Das ist, als ob man eine Kirche abreißt. Die kann man nicht einfach wieder aufbauen – das ist dann vorbei. Gerade die konservativen Parteien, die immer auf Tradition pochen, müssen sich doch bewusst sein, dass wir von diesem kulturellen Erbe leben. Das ist Inhalt unseres Lebens. Sonst werden wir wie die USA unter Trump.
Das Gespräch führte Markus Thiel.