Obwohl Mieczyslaw Weinberg „Die Passagierin“ schon 1968 vollendet hatte, war die szenische Uraufführung erst 2010 in Bregenz. Seitdem spielten viele Häuser den Zweiakter nach, der sich auf ungewöhnliche Weise mit der Shoah auseinandersetzt (siehe Handlung). An der Bayerischen Staatsoper inszeniert Tobias Kratzer diese Oper, die auf dem autobiografischen Roman der 2022 gestorbenen Polin Zofia Posmysz basiert.
Kann und darf man den Holocaust auf die Bühne bringen? Und wie entgeht man der Gefahr, dass dies zur TV-Dokumentation à la Guido Knopp missrät, die sich von allem faszinieren lässt?
Es ist wirklich eines der Stücke, bei dem ich am längsten überlegt habe, ob ich es annehmen soll. Gerade weil Ihre Fragen hier geradezu werkimmanent sind. Jedes Mal, wenn ich „Die Passagierin“ gesehen habe, beschlich mich ein Unbehagen. Nicht, weil das eine schlechte Oper wäre, sondern weil die Darstellung der inhaftierten Frauen mit aufgeklebten Glatzen und gestreiften Jacken für mich nicht gangbar war. Bisher waren die Aufführungen immer legitimiert durch die Realpräsenz von Zofia Posmysz, die sich meistens im Premierenapplaus auf der Bühne zeigte. Es gibt also diesen Zwiespalt: Wie stellt man den eigentlich nicht darstellbaren Holocaust dar? Und wie geht man dabei mit der immens wichtigen Thematik um?
Das Besondere des Stücks ist, dass für eine Täterin auch Sympathien geweckt werden. Der Kunstgriff ist nicht so selten, man denke nur an den aktuellen Kinofilm „The Zone of Interest“ über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Wie geht man mit diesem Uneindeutigen um?
Ich finde das sehr wichtig, weil man damit der Gefahr entgeht, in eine Gedenkroutine zu rutschen. Letzteres ist ja nicht prinzipiell schlecht. Gedenken muss und will eingeübt werden. Doch hier ist es nun so, dass man das Publikum in paradoxe Fragestellungen verwickelt. Man fragt danach, wo und wie eine solche Negativfigur nachvollziehbar wird. Man könnte sich sogar dabei ertappen, dass einen das Schicksal einer alten Deutschen mehr trifft als das der Opfer. Ein sehr gefährliches Terrain. Aber es ist eben nicht das geringste Genie dieses Stückes, dass ein Opfer für sich das Gedankenexperiment wagt, quasi in den Kopf einer Täterin zu schlüpfen. „Die Passagierin“ hat zudem einen unglaublich melodramatischen Anteil. Dirigent Vladimir Jurowski und ich waren uns sehr früh einig, dies nicht überzubetonen. Es gibt nun eine Strichfassung, die einiges von der Sentimentalität im Lager etwas knapper fasst. Damit gehen wir stärker auf den Roman von Zofia Posmysz zurück, der die Perspektive auf dem Schiff mehr in den Vordergrund rückt. Und um nochmals auf Ihren Guido-Knopp-Aspekt zu kommen: In diesem Stück gibt es einen Draht zwischen historischer Wahrhaftigkeit und extremer ästhetischer Distanzierung. Und das findet sich bei Knopp eben nicht.
Abgesehen davon, dass die Entscheidungsträger in der Sowjetunion das Stück ablehnten – warum kam es erst 2010 in Bregenz zur szenischen Uraufführung? Damit verbunden war eine wie losplatzende Wiederentdeckung dieses Komponisten. Merkwürdig spät, oder?
Es handelt sich hier um eine der wenigen Opern, die wirklich nachhaltig wiederentdeckt wurden. Interessanterweise ist in diesem Stück der Aspekt der Shoah, der Judenverfolgung, vergleichsweise wenig stark ausgeprägt. Es gibt eine Jüdin, die aber nur eine kleine Nebenfigur ist. Das hängt wohl mit der sowjetischen Tradition zusammen. Dafür gibt eine ausgiebiger behandelte russische, fast propagandistisch-sowjetische Figur, die wir allerdings gestrichen haben. Diese „Schieflage“ aus unserer Sicht hat die Wiederentdeckung wohl verhindert. „Die Passagierin“ lagerte quasi im sowjetischen Giftschrank.
Ist „Die Passagierin“ in unserer nach rechts driftenden Zeit eine Art der Stück der Stunde? Oder überfrachtet man sie damit?
Sie ist immer ein Stück der Stunde. Ich glaube auch nicht, dass man daraus für gegenwärtige politische Debatten etwas lernen kann. Man kann allerdings „Die Passagierin“ nicht so schnell abhaken und in eine Schublade, eben auch die des Gedenkens, stecken. Das finde ich gut. Wunden werden offengehalten. Und es wird klar gemacht, dass der Holocaust kein Fliegenschiss der deutschen Geschichte war, wie es die AfD meint. Es wird sehr deutlich, wie schnell und nah man an die Grenzen der Zivilisation gerät.
Sie haben schon verraten, dass Sie neben den Geschehnissen im KZ und später auf dem Schiff eine dritte Ebene einziehen.
Genau, auch damit kein rein historisches Drama daraus wird. Die dritte Ebene spielt 2024 auf einem Schiff, wo die alt gewordene Lisa wie die alte Rose in „Titanic“ noch einmal zurückfährt. Vielleicht, um die Asche ihres Mannes zurück ins Vater- beziehungsweise Mutterland zu bringen. Das bringt eine gewisse Gegenwärtigkeit in die Geschichte: die Frage, wie man auch viele Jahrzehnte danach mit Schuld umgeht. Für mich ist es bedeutend, dass dies die erste Neuinszenierung der „Passagierin“ nach dem Tod von Zofia Posmysz ist. Nun muss man sich mit vielen Dingen, die aus Sicht der Autorin beglaubigt und gerechtfertigt waren, allein zurechtfinden. Das ist schwieriger – bietet aber auch die Chance, „Die Passagierin“ eine Rezeptionsstufe weiterzudrehen.
Fühlen Sie sich gerade wie zerrissen? Ihre Regie- Arbeit, man denke nur an den ab nächster Saison geplanten „Ring des Nibelungen“ in München, läuft auf Hochtouren, gleichzeitig ist da ab 2025 der Job als Intendant der Hamburgischen Staatsoper.
Zerrissen würde ich es nicht nennen. Fragen Sie mich in drei Jahren noch einmal. Ich hoffe gerade, dass es mir mit meiner Regie-Arbeit am eigenen Haus gelingt, nicht nur mitzubedenken, was diese Wirkung in Hamburg auslöst. Davon muss man sich freimachen. Ich werde dort in jeder Saison mindestens zwei Sachen inszenieren, eine auf der großen Bühne und ein kleineres Projekt. Im ersten Jahr werde ich sogar relativ viel herausbringen, um meine Handschrift zu zeigen. Hamburg ist ein interessantes Pflaster. Ich bin dort nicht aufgewachsen, kann also von außen draufschauen. Ein Haus mit einer großen Geschichte neu aufzustellen, das reizt mich einfach sehr.
Eigentlich sind Sie ein Auslaufmodell. Überall gibt es Manager-Intendanten, Hamburg leistet sich nun einen Künstler- Intendanten alter Schule.
Natürlich finde ich die Position für mich selbst interessant. Andererseits: Seit Jossi Wieler und Barrie Kosky nicht mehr Intendanten sind, gibt es in der deutschen Opernkonferenz kein Haus mehr, das von einem Künstler geführt wird. Und das finde ich auch nicht gut. Ich bin weit davon entfernt, Manager-Intendanten zu dissen. Aber eine Mischung sollte es geben. Ich sah mich da schon ein wenig in der Verantwortung.
Das Gespräch führte Markus Thiel.
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