In die Debatte um die geplante Stundenplan-Reform an Bayerns Grundschulen haben nun prominente Künstlerinnen und Künstler eingegriffen. Stars wie Anne-Sophie Mutter, Sir Simon Rattle oder Vladimir Jurowski wenden sich in einem offenen Brief an die Staatsregierung. Sie üben heftige Kritik an einer möglichen Stundenkürzung bei den Kreativfächern Musik, Kunst und Werken. In unserer Zeitung hat sich bereits Bariton Christian Gerhaher ausführlich dazu geäußert. Wir bringen den offenen Brief hier im Wortlaut:
Sehr geehrte Frau Ministerin Stolz, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Söder, sehr geehrte Bayerische Staatsregierung,
wir möchten hier unseren Protest gegen die geplante Kürzung des Unterrichts in Kreativfächern an den bayerischen Schulen ausdrücken. Den Versuch, am 4. März 2024 die geplante Zusammenlegung der Grundschulfächer Kunst, Musik und Werken zu relativieren, gar zu bestreiten, die Verantwortung für den durchzuführenden Unterricht an die Schulen zu übertragen und „epochalen Unterricht“ zu erlauben, also beispielsweise ein halbes Jahr lang Kunst, danach Musik zu unterrichten, halten wir für den unseriösen Versuch, dem weithin einhelligen Protest gegen Ihr Vorhaben den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Es bleibt in der Sache dabei, dass Sie dem in der Praxis schon längst realen Unvermögen, der kreativen Erziehung unserer Schülerinnen und Schüler in ausreichendem Maß nachzukommen, nun auch noch eine gesetzliche Grundlage geben wollen. Epochal ist dabei allenfalls Ihr offener Versuch, die Künste als verzichtbare Nebensache zu erklären. Wir möchten Sie mit Nachdruck daran erinnern, dass Sie durch den Artikel 3 der Bayerischen Verfassung verpflichtet sind, dem Land Bayern als Kulturstaat gerecht zu werden.
Dem vielfältigen Versagen in dieser Aufgabe, beispielsweise während der Pandemie, fügen Sie nun gemäß dem immer offensichtlicheren Desinteresse dieser Regierung an den kulturellen Inhalten in der schulischen und universitären Erziehung eine weitere schwere Verfehlung hinzu. Die Künste in unserem Land sind in ihrer staatlichen Finanzierung und damit Extension geradezu ein Alleinstellungsmerkmal unseres Landes, sie tragen Enormes zur Produktivität unseres Landes bei und sie sind nicht Subventionsempfänger, sondern Orte für Investitionen in eine Zukunft mit historischer Fundierung und kultureller Tradition, in ein Weitergeben jahrtausendelang gepflegter Inhalte an die jeweils folgenden Generationen. Kreativität brauchen wir in unserer Welt wohl in größtem Ausmaß. Wie sollen wir den vielfältigen und bedrohlichen Entwicklungen nicht nur der letzten Zeit begegnen können, wenn wir nur auf den Erwerb von Kompetenzen setzen?
Wir müssen unseren Kindern die Möglichkeit mitgeben, sie geradezu ermutigen, nicht nur regelkonform, sondern auch frei und assoziativ mit ihrer Fantasie umzugehen, Ideen zu entwickeln, und mit sinnlicher Freude Neues zu denken und auszuprobieren. Der freie Umgang mit Kreativität trägt zu emotionaler und empathischer Kompetenz bei, zum Spracherwerb, zur Kommunikationsfähigkeit.
Auch deshalb spielt die Erziehung mit Künsten eine herausragende Rolle. Sie haben wegen der Kulturhoheit der Bundesländer und aufgrund des oben schon erwähnten Artikel 3 der Bayerischen Verfassung einer besonders hohen Verantwortung gerecht zu werden.
Wir fordern Sie dementsprechend auf, den gerade gegenteiligen Weg zu gehen: Überlassen Sie bitte nicht den mit Personalnot ohnehin überforderten Schulen, wie sie mit diesen Fächern umgehen. Lassen Sie nicht zu, dass diese Fächer eine erneut geringere Bedeutung bekommen, sondern korrigieren Sie im Gegenteil die Fehler, die schon längst und wiederholt gemacht wurden und welche damit das Desinteresse an den Künsten ganz offensichtlich wachsen ließen.
Bitte stärken Sie vielmehr den Unterricht mit kulturellen Inhalten: Fördern Sie im Deutsch-Unterricht nicht nur die Kompetenzen, sondern auch den selbstverständlichen Erwerb breiter literarischer Kenntnisse, fördern Sie die kunsthistorische Urteilskraft, machen Sie die Vertrautheit mit musikalischen Inhalten wieder zu einer Selbstverständlichkeit, damit dieses Land auch von dieser Seite wieder neue Ideen bekommt.
Damit das in den weiterführenden Schulen funktionieren kann, müssen aber die Jüngsten schon in dieser Richtung so gut wie möglich gefördert werden. Wir dürfen die Pflege der Künste nicht den Museen, Theatern, Orchestern und Gymnasien überlassen, und alle Kinder müssen teilhaben dürfen – das funktioniert am besten in den Grundschulen, und das auch noch sprach- und herkunftsübergreifend und damit in besonderem Maße integrativ und identitätsstiftend. Was Sie vorhaben, sind Kürzungen am völlig falschen Ort! Mit freundlichen Grüßen
Prof. Julia Fischer, Prof. Christian Gerhaher, Chefdirigent Jakub Hrusa, GMD Vladimir Jurowski, Prof. Anne-Sophie Mutter, Chefdirigent Sir Simon Rattle, Chefdirigent Lahav Shani, Prof. Georg Arzberger, Yulianna Avdeeva, Prof. Juliane Banse, Prof. Markus Bellheim, Prof. Gerold Huber, Prof. Christiane Iven, Christiane Karg, Konstantin Krimmel, Prof. Mi-Kyung Lee, Prof. Nils Mönkemeyer, Daniel Müller-Schott, Michael Nagy, Tareq Nazmi, Prof. Lena Neudauer, Prof. Christoph Poppen, Prof. Alexandra Scott, Prof. Julian Steckel, Prof. Ingolf Turban, Prof. Wen-Sinn Yang.