Das reale Grauen wird hier nachgereicht. Auf einem kleinen Fernseher flimmert es, Schwarz-Weiß-Bilder aus einem KZ sind das. Am Ende ist Lisa, die ehemalige Aufseherin, allein mit ihnen, fürs Publikum im hinteren Parkett und auf den Rängen sind die Doku-Filmchen ohnehin nicht mehr erkennbar. Auch, und das ist das große, berechtigte Anliegen des Abends, weil bei diesem Thema Nachzeichnung und Naturalismus ja nur scheitern können. Das hat der Kino-Unfall „Der Untergang“ gezeigt, auch die TV-Serie „Holocaust“ aus den Sieibzigerjahren wäre heute nicht mehr denkbar in dieser Form. Die einzigen gestreiften Stoffe auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper sind Handtücher und Liegestuhlbezüge eines Ozeandampfers, man kann das als subtile Zeichen deuten.
Der unzeigbaren Realität in „Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg setzt Regisseur Tobias Kratzer eine neue Realität entgegen. Kein Bilderspringen also zwischen Schiff und Auschwitz, sondern eine weitere Ebene. Lisa, die ihrem Mann die braune Vergangenheit gesteht, begegnet in dieser Aufführung vor allem sich selbst. Kratzer zeigt sie uns, dies seine Hinzuerfindung, als (fast) stumme Alte, die noch einmal alles imaginiert: die fatale Überfahrt vor vielen Jahren, als sie der vermeintlichen Gefangenen Marta begegnete – und die sie nun als vervielfachtes Double peinigt.
Irgendwann hält sie den selbst verschuldeten Gespenstern der Vergangenheit nicht mehr stand. Im riesig projizierten Video von Manuel Braun und Jonas Dahl treibt die alte Lisa im Meer offenbar nach einem Suizid. Keine Nacherzählung also, kein behutsames Entlanghangeln am Stoff, wie es noch Kratzers Kollege David Pountney bei der späten szenischen Uraufführung der „Passagierin“ anno 2010, 40 Jahre nach ihrer Entstehung, riskierte: Kratzer will einen Regie-Essay über Erinnerungsarbeit, dies mit dem Handwerk des Versierten. Es ist gewissermaßen Erinnerung für Fortgeschrittene.
Die monumentale Kabinenwand des Ozeandampfers von Ausstatter Rainer Sellmaier und nach der Pause die langen Dinner-Tische, mal leer, mal mit Kreuzfahrtvolk, sind Verfremdung, Herunterkühlung und Gegen-Realität zugleich. (Ge-)Denkräume eröffnet das, auch anderes wird offenbart: eine – verständliche – Übervorsicht dem Werk gegenüber, eine gut gemeinte Beißhemmung. Und eine große Frage wird dabei aufgeworfen: Ob Weinbergs Oper wirklich allen Erwartungshaltungen an ein Shoah-Stück standhalten kann?
Die Schwächen des Librettos treten an diesem Abend ungewollt zutage. Nicht zuletzt die 2022 gestorbene Zofia Posmysz, um deren autobiografische Erzählung es hier geht, hatte darauf hingewiesen. Kratzer und Dirigent Vladimir Jurowski räumen das sogar ein. Sie machten Weinbergs Hauptwerk erst passend für die Münchner Erstaufführung. Mit Kürzungen, die Figur einer sowjetisch-propagandistischen Lager-Insassin wurde sogar ganz gestrichen.
Überhaupt gibt die Regie den von Weinberg so verschieden gezeigten und gezeichneten Gefangenen kein Gesicht und keine eigene Geschichte. Sie sind „nur“ noch Wiedergängerinnen und Doubles einer einzigen Marta. Auf seiner Flucht aus der Naturalismusfalle nivelliert Kratzer das Stück also auch – und dies, obwohl Jurowski mit seiner Charakterisierungskunst Gegenteiliges versucht.
All die Verweise auf Weinbergs Vorbild Schostakowitsch führen ja in die Irre bei dieser Partitur. Wo Letzterer in schmerzhaft-wildem Expressionismus Bewältigungsarbeit leistet, geht Weinberg den Weg der Verinnerlichung, des Zitats (mit Jazz, Foxtrott und wie verbogenen Walzern) und des Bruchstückhaften – auch wenn die Musik im zweiten Teil an Vehemenz zulegt. Mit dem Bayerischen Staatsorchester interessiert sich Jurowski für eine Schärfung dieser Details und Schichten. Zuspitzung und Härtungen sind ihm wichtig, Kulinarik und Melancholie verdächtig. In dieser Deutung klingt Weinbergs Partitur womöglich offensiver, als sie eigentlich gemeint ist.
Dem Gesangspersonal bleibt dabei trotzdem genügend Raum. Sophie Koch ist eine Lisa ohne falsche Expressivität. Eine Sängerin, die den Zwischentönen der Rolle nachlauscht, mit wohlgerundeter, kontrollierter Mezzo-Kultur innere Zustände hörbar machen kann. Und damit Kontrast ist zur emphatischen Marta, die Elena Tsallagova mit dunklem, gehaltreichem Sopran lodern lässt. Charles Workman zeichnet Lisas Mann Walter (auch klanglich) als alerten bis einfältigen Emporkömmling, ohne ihn zu denunzieren. Jacques Imbrailo macht den Tadeusz mit samtigem Charakterbariton zum späten Wozzeck-Verwandten: eine Figur, auf die bei Weinberg alles zuläuft.
Statt den vom Lagerkommandanten geforderten Walzer zu fiedeln, spielt Tadeusz in einem todbringenden Akt des Widerstands Bachs Chaconne. Ein bestürzender, atemverschlagender Moment in anderen Aufführungen der „Passagierin“, hier bleibt die Wirkung (gewollt?) gebremst. Als ob sich Regisseur und Dirigent vor zu viel Identifikationspotenzial fürchten. So bedenkens- und ehrenwert dieser Abend also ist: Es scheint, als ob man Weinbergs „Passagierin“ auch ein Stück weit vor sich in Schutz nehmen möchte. Genau das ist vor einem Jahr an selber Stelle passiert, bei Prokofjews „Krieg und Frieden“. Bei beiden Opern, auch das ist eine Münchner Erfahrung, spricht das nicht gegen die Notwendigkeit einer Aufführung.
Nächste Vorstellungen
am 13., 16., 22. und 25. März; Tel. 089/21 85 19 20.