Kein bisschen Frieden

von Redaktion

In Los Angeles demonstrieren propalästinensische Gruppen – Klare Botschaften auf der Bühne

VON KATJA KRAFT

In Jonathan Glazers seit Sonntag Oscar-gekröntem Meisterwerk „The Zone of Interest“ gibt es eine Erzählebene, die aus dem übrigen Film heraussticht. Ein Mädchen legt nachts, von einer Wärmebildkamera gefilmt, Äpfel für die Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz aus. Es ist eine wahre Geschichte: Regisseur Glazer hat die Polin kennengelernt, als sie schon 90 Jahre alt war. Sie wuchs in Auschwitz auf und fuhr als junge Frau nachts heimlich mit ihrem Fahrrad durch die Umgebung, um Obst für die Häftlinge zu verstecken. „Ihr Erzählstrang symbolisiert die andere Seite von uns. Denn selbst in diesen Zeiten gab es gute Menschen“, sagte Glazer in einem Interview.

Die Polin hieß Aleksandra Bystron-Kolodziejczyk. Sie ist inzwischen verstorben. Ihr widmet der Brite am späten Sonntagabend US-amerikanischer Zeit seinen Auslands-Oscar. Und erinnert daran, dass sich Geschichte wiederholt, wenn wir es zulassen. Sein Film wolle nicht sagen: „Schaut, was sie damals getan haben“, sondern: „Schaut, was wir heute tun“. „Unser Film zeigt, wohin die Entmenschlichung in ihrer schlimmsten Form führt, sie hat unsere gesamte Vergangenheit und Gegenwart geprägt.“

Die Gegenwart mit all ihren kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit ist also auch Thema auf der Oscar-Bühne. Explizit geht Jonathan Glazer, selbst aus einer jüdischen Familie, in seiner Dankesrede auf die Lage in Gaza ein. Nun stünden seine Glaubensbrüder und er hier und wehrten sich dagegen, dass „ihr Jüdischsein und der Holocaust“ ausgenutzt würden für eine Besatzung, die für so viele unschuldige Menschen zum Konflikt geführt habe. „Ob es die Opfer des 7. Oktober in Israel oder die der andauernden Attacke auf Gaza sind, alle sind Opfer dieser Entmenschlichung.“

Auch andere nehmen zum Gaza-Krieg Stellung. Auf dem roten Teppich und der Bühne tragen mehrere Gäste rote Ansteck-Buttons – als symbolische Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand. Die Schauspieler Ramy Youssef und Mark Ruffalo etwa oder die Sängerin Billie Eilish.

Sieben Preise für einen Film über den „Vater der Atombombe“ – das hätte ein höchst politischer Abend werden können (siehe Seite links). Doch erstaunlich ruhig verläuft die Gala ansonsten. Draußen indes geht es lauter zu. Laut „New York Times“ sollen sich in der Nähe des Dolby Theatre in Los Angeles propalästinensische Protestierende versammelt haben, nach Polizeiangaben seien es mindestens drei Demos, bei der größten kommen demnach mehrere hundert Teilnehmer zusammen.

Als drinnen im Saal wie bei jeder Oscar-Verleihung an die im vergangenen Jahr verstorbenen Filmschaffenden erinnert wird, beginnt die „In Memoriam“-Fotoschau mit einem Zitat des kürzlich in Haft verstorbenen Putin-Kritikers Alexej Nawalny. Ein kleines Zeichen der Solidarität von Hollywood mit der Ukraine und gegen den russischen Angriffskrieg. Deutlicher in dieser Sache wird Mstyslaw Tschernow. Als der ukrainische Regisseur des erschütternden „20 Tage in Mariupol“ über die russische Invasion in die Ukraine den Preis für den besten Dokumentarfilm entgegennimmt, setzt er zu einer berührenden Dankesrede an: „Dies ist der erste Oscar in der ukrainischen Geschichte. Und ich fühle mich geehrt. Aber ich werde wohl der erste Regisseur auf dieser Bühne sein, der sagt: Ich wünschte, ich hätte diesen Film nie machen müssen.“ Er wünschte, er könne die Trophäe gegen eine Realität eintauschen, in der Russland die Ukraine nicht angegriffen hätte. „Ich wünschte, dass Russland nicht zehntausende Menschen getötet hätte. Aber ich kann die Geschichte, kann die Vergangenheit nicht ändern. Doch wir alle zusammen können uns dafür einsetzen, dass die Zukunft anders weitergeht.“ Und dass die Menschen, die ihr Leben in diesem Krieg ließen, nie vergessen würden. Die Filmkunst spiele hier eine wichtige Rolle. „Kino formt Erinnerungen. Und Erinnerungen formen Geschichte.“

Schließlich sieht auch Cillian Murphy, geehrt als „Bester Hauptdarsteller“ für sein Spiel in „Oppenheimer“, die Verantwortung, die in der Rolle des Atombomben-Entwicklers Robert Oppenheimer liegt. Murphy widmet seinen Preis „allen Friedensstiftern weltweit“. Dass sie manchmal schon durch vermeintlich kleine Gesten wie geschenkte Äpfel und Birnen wirken – Kinofilme wie „The Zone of Interest“ erinnern uns daran.

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