Aus dem Vollen schöpfen

von Redaktion

AUSSTELLUNG „Der Blaue Reiter – Eine neue Sprache“ im Lenbachhaus

VON SIMONE DATTENBERGER

Keine Sorge, das „Blaue Pferd“ ist im Münchner Lenbachhaus geblieben. Franz Marcs „Tiger“ dürfen die Londoner jedoch bestaunen. Die Tate will ihre Gäste über den dort immer noch unterbelichteten Expressionismus inklusive „Blauer Reiter“ unterrichten (25. April bis 20. Oktober). Im Gegenzug präsentierte unsere städtische Galerie eine umfassende William-Turner-Ausstellung (wir berichteten).

Museumschef Matthias Mühling ist stolz darauf, dass sein „kleines Haus“ mit seiner kleinen Mannschaft fast gleichzeitig die Turner- und eine Menge Blauer-Reiter-Werke für Großbritannien eingepackt und obendrein eine komplett neue eigene Schau in der Abteilung dieser zutiefst in Oberbayern verwurzelten und Menschheits-offenen Richtung konzipiert hat.

Kuratorin Melanie Vietmeier erzählt in „Der Blaue Reiter – Eine neue Sprache“ (mit Mühling und Nicholas Maniu) in rund 240 Werken von Gemälden über Skulpturen bis zur Grafik darüber, woher die vielgestaltige Gruppe zwischen 1900 und der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kam und wohin sie ging. Selbst für Kennerinnen und Kenner der Bestände von Lenbachhaus und Münter-Eichner-Stiftung gibt es allerhand zu entdecken: von Ankäufen (Förderverein) bis zu nie gezeigten Arbeiten. Hatte sich die vorherige Exposition „Gruppendynamik – Der Blaue Reiter“ um den innersten Wesenskern der Kunstidee gekümmert, weitet sich nun der Blick aufs Umfeld.

Gestartet wird mit dem Jugendstil. Und, ja: Dieser pathetische Ritter ist von Wassily Kandinsky. Und, ja: Dieser sezessionistische Entwurf für einen Gobelin ist von Franz Marc. Da hat Minnie Goossens’ Farbkeramik einer herben, raffiniert geformten Frau schon mehr Pfeffer. Auch in ihrer spätimpressionistischen Phase bleiben die Männer berechenbar, zeigen allerdings zunehmend Power. Marcs fluffigen Zamperl „Schlick“ muss man einfach mögen. Eine Gabriele Münter hat zudem einen scharfen Blick; in den USA fotografiert sie einen schwarzen (!) Sheriff.

Ab dem Kapitel „Murnau“ fühlen wir uns dann ganz daheim bei unseren „Blauen Reitern“ – trotz ungewohnter Eindrücke. Die meist weiche Maria Franck-Marc lässt ihr Distel-Stillleben aggressiv zackig werden. Oder August Macke. Er begegnet uns in dem Dreiklang aus elegischem Tegernsee-Blick, einer stimmungsvollen Rheinbrücke und einem Tegernseer Bub; alles ziemlich realistisch, kein Kubismus, nirgends.

„Typisch Blauer Reiter“ ist da also nichts, aber genau das ist typisch Blauer Reiter! Niemand war auf einen Stil festgelegt. Niemand auf ein zertifiziertes Können. Nicht mal Zeiten oder Kulturen sollten eine Rolle spielen. Das versucht die Ausstellung in jedem Kapitel klarzumachen, ob bei „Blick auf das ,Andere‘“ oder „Meditation“ oder „Krieg und Exil“. Zugleich schildern solche Bild-Kombinationen, wie sich eine malende Persönlichkeit entwickelt, welche Bandbreite sie hat und dass sie nicht auf ihre Blaue-Reiter-Zeit festgelegt werden kann. Da das Lenbachhaus seit der Nachkriegszeit systematisch das sammelt, was irgendwie zum „Blauen Reiter“ gehört, kann es aus dem Vollen schöpfen. So begegnen einem sogar vergessene Künstlerinnen und Künstler wie der von den Nazis ermordete Moissey Kogan oder Katharine Schäffner, deren abstrakt-ausdrucksintensive Grafikmappe „Eine neue Sprache“ der Präsentation den Namen gab. Sogar Alexander Sacharoff, berühmt durch Alexej von Jawlenskys Porträt, und seine entzückenden Kostüm-Figurinen wurden hervorgekramt. Natürlich findet sich in der Exposition eine Groß-Parade von Kandinsky- und Marc-Werken, wobei mit einem winzigen Bild von Robert Delaunay sogleich die Verbindung zu Paris hergestellt wird.

Tief bewegend sind viele der Gemälde aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Hier Josef Scharls „Gefallener Soldat“, dessen Leichnam im Stacheldraht verrottet. Dort Gabriele Münters Bilder aus ihrer skandinavischen Zeit: keine Anzeichen von Krieg, nur eine undefinierbare Melancholie. Solche Kontraste dominieren ebenfalls das Schlusskapitel „Neue Sachlichkeit“. Das Kuratoren-Team setzt den Menschen ins Zentrum. Elisabeth Epsteins Selbstbildnis gehört dazu (insgesamt fünf Arbeiten von ihr konnten erworben werden), genauso wie das von Käthe Hoch. Zu sehen sind die Promis Helene Weigel und Bertolt Brecht von Rudolf Schilcher ebenso wie die g’standne Bäuerin von Anita Rée und die coole Städterin von Willy Jaeckel. Marc und Macke waren gefallen, Kandinsky schlug sich (noch) in der jungen Sowjetunion durch. Doch ihre Träume faszinieren und helfen uns.

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