Die Stimme als Maß aller Dinge

von Redaktion

Zum Tod des Komponisten Aribert Reimann

VON MARKUS THIEL

Woran er glaubte, das wissen wir nicht genau – obgleich Aribert Reimann zweifellos ein spiritueller Mensch war. Aber an eines glaubte er ganz gewiss: an die menschliche Stimme. Und mehr noch: daran, dass auf der Bühne Geschichten erzählt werden müssen, vor allem die großen, alten, archaischen, die doch so viel von uns handeln. Geschichten von Liebe und Tod, in die er oft die bekannten Heldinnen und Helden der Literatur verwickelte – auf dass sie in der Oper neu, mit seinem, so maßgeschneiderten Klanggewand erstehen dürfen.

So gesehen war Reimann, der am Mittwoch im Alter von 88 Jahren in seiner Berliner Heimat gestorben ist, ein Traditionalist. Und einer, der sich offensiv dazu bekannte: „Oper ohne Dichtung und nur mit Vokalisen funktioniert eben nicht“, sagte er einmal unserer Zeitung. „Ich brauche auch immer einen Gesamthandlungsstrang.“ Insofern bedeutete Tradition bei Reimann: Musiktheater benötigt Grundzutaten, sonst funktioniert es nicht.

Reimann liebte die menschliche Stimme, weil er Sohn einer Sängerin und eines Kirchenmusikers war und auch, weil er die Stimme so intensiv studieren durfte. Seine Laufbahn begann er als Korrepetitor an der damaligen Städtischen Oper Berlin, der heutigen Deutschen Oper. Fast vergessen ist, dass Reimanns erste Bühnenstücke in Zusammenarbeit mit Günter Grass entstanden, allerdings fürs Ballett.

Die Musikwelt hatte auf den jungen Komponisten nicht gerade gewartet, Reimann verdiente sich daher auch Geld als Pianist. Und als es dann an die ausgedehnteren Werke ging, verarbeitete er darin gleich die großen, alles umspannenden Themen wie Tod, Verlust und Versagen. Dieser stets zugewandte Mann räumte ein, dass dies auch therapeutischen Hintergrund hatte. Reimanns Kindheit war vom Krieg überschattet. Als die Bombenangriffe auf Berlin immer verheerender wurden, floh die Familie mit einem Handkarren. 1944 verlor Reimann in diesem Inferno seinen älteren Bruder.

Der Primat des Kantablen (auch wenn sich die Singstimme manchmal extrem spreizen durfte und musste) strahlte aus auf Reimanns Orchesterbehandlung. So weit er sich von der Tonalität entfernte, so sehr durchwehte seine Partituren Sinnlichkeit, ja Kulinarik. Elektronik lehnte Reimann ab, „synthetische Klänge“ mochte er nicht. Ein wenig ist Reimann da dem Kollegen Wolfgang Rihm verwandt, der die Dogmen der Avantgarde, das manchmal verbohrte Beharren auf dem radikalen Anderssein, bespöttelt bis verachtet. Sein Ruhm gab Reimann ja Recht: Die großen Opern wurden tatsächlich Publikumserfolge.

Allen voran die Shakespeare-Vertonung des „Lear“, die auf Anregung von Dietrich Fischer-Dieskau entstand und 1978 an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt wurde – 2021 gab es bekanntlich dort eine Neuproduktion mit Christian Gerhaher in der Titelrolle. Eine einschüchternde OpernReihe entstand: „Die Gespenstersonate“ nach Strindberg (1984, Berlin), „Troades“ nach Euripides (1986, München), „Das Schloss“ nach Kafka (1992, Berlin), „Bernarda Albas Haus“ nach García Lorca (2000, München), zuletzt „L’invisible“ nach Maeterlinck (2017, Berlin). Dazu noch viele Lieder, Gesangsszenen mit Orchester und reine Instrumentalwerke. Und irgendwann wurde Reimann zum Klassiker, zum verehrten Doyen der deutschsprachigen Komponistenzunft.

Große Sängerinnen und Sänger ließen sich gern von ihm am Klavier begleiten, mit Brigitte Fassbaender zum Beispiel entstanden einige der tiefsten, reflektiertesten Liedinterpretationen überhaupt, man höre nur Schuberts „Winterreise“.

Einen seiner letzten öffentlichen Auftritte hatte Aribert Reimann im Februar. Da nahm er in Berlin den Deutschen Musikautorenpreis für sein Lebenswerk entgegen. „Ich war vollkommen überrascht, dass ich diesen Preis bekommen habe und bin dafür auch unglaublich dankbar“, sagte er. Und wer Reimann kannte, der wusste: Er meinte es aus vollem Herzen ernst.

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