Auf Reisen mit Rattle

von Redaktion

Das BR-Symphonieorchester und sein Chefdirigent gastieren in Wien

Eine Frau kann einen ganzen Tag durcheinanderwirbeln. Zum Beispiel wenn sie gar nicht mehr lassen will von den Zugaben: Martha Argerich, nach Ravels Klavierkonzert in spendabler Form, bringt den Zeitplan des Wiener Musikvereins an Grenzen. Denn anschließend spielen die Wiener Philharmoniker unter Zubin Mehta noch Bruckners Siebte, und während der letzte Satz den Saal flutet, scharren hinter der Bühne die Kolleginnen und Kollegen mit den Füßen. Eigentlich wären die Gäste aus München jetzt dran mit ihrer Anspielprobe. Als die Platzhirsche von der Donau endlich die Bühne verlassen, kommt es in den engen Gängen und Räumen zum Kuddelmuddel, aus dem – man kennt sich ja – mehrfach ein erfreutes „Servas!“ tönt.

Überhaupt ist die Stimmung bestens. Es prickelt. Wie das eben so ist, wenn man mit dem frisch Vermählten auf Hochzeitsreisen ist. Nach einem Pariser Abstecher ist dies der zweite Auslandstrip von Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Sir Simon Rattle, er führt für zwei Konzerte an die Donau. Es gibt Musikerinnen und Musiker, denen sogar während des Ernstfalls Konzert nicht das Lächeln aus dem Gesicht weicht. Und manchmal wird es sehr ernst wie am Sonntagnachmittag, als Mahlers Sechste, die „Tragische“, gespielt wird. Jenes Opus, bei dem inklusive der berühmten zwei Hammerschläge nicht nur ein Leben, sondern eine Welt zu Bruch geht. Was im Übrigen eine Art Antwort aufs erste Konzert dieses Wochenendes im Musikverein ist. Da hatte das ORF-Symphonieorchester Mahlers Neunte gespielt, in der alles verlöscht und vergeht – allerdings auf eine bei Chefdirigentin Marin Alsop so intensive wie diesseitige Art.

Zu Beginn der Saison hat das BR-Symphonieorchester Mahlers Sechste mit Rattle in der Isarphilharmonie gestemmt. Jetzt, im goldenen Wundersaal des Musikvereins, wo der Klang ungebremst ins Hirn, vor allem in den Bauch drängt, muss neu justiert werden. „Kein großer Brauner, bitte nicht zu schnell“, empfiehlt Rattle in der Probe. Und: „Wenn es zu laut wird, hört das Publikum nicht mehr zu, sondern wartet, dass es vorbeigeht.“ Später wird Rattle die komplexe Partitur auswendig dirigieren. Diese Musik hat er eingeatmet, verblüffend selbst- und detailbewusst lotst er das Ensemble durch den 90-Minüter. Vor allem für solche Konzerte hat man ihn ja zum BR gelockt.

Dieser Mahler verträgt kein zweites Werk an seiner Seite. Am Abend zuvor spielt man Vorspiel und Liebestod aus Wagners „Tristan und Isolde“ plus „Aquifier“ von Thomas Adés, vor allem aber Beethovens Sechste. In der „Szene am Bach“ hebt die Aufführung ab. Ein wunderzartes Gespinst aus Streicherpulsieren und Bläserdialogen. Alle auf dem Podium sind sich wie blind einig, alle ergreifen die Initiative fürs große Ganze. Unerklärliche Minuten sind so was. Einen kleinen Stich bekommt mancher, als Dvořáks siebter Slawischer Tanz als Zugabe durch den Raum fegt – es ist eine der Lieblingszugaben des 2019 verstorbenen Chefs Mariss Jansons. „Dvořák macht alles besser“, kündigt Rattle den Reißer auf Deutsch an. Fragende Orchestergesichter auch danach beim Schnitzelessen. Und die Klärung tags darauf: Rattle wollte Dvořák nicht gegen Beethoven ausspielen, er sieht ihn als Klangglückspille in dunkleren Zeiten.

Denn natürlich ist da die Sache mit dem Saal. Ausgerechnet nach dem schwarzen Loch von Mahlers Sechster lässt sich Rattle interviewen. Im Künstlerzimmer des Musikvereins, nachdem Wiens Honoratioren ihre Aufwartung gemacht haben. Der Chef sitzt bestens gelaunt im grünen Ledersessel, ein Glas Weißwein in der Hand. Und kommt das Konzerthaus im Werksviertel? Ein eindeutiges Ja. „Ich bin Langzeitoptimist.“ Und die Denkpause, die einst Bayerns Staatsregierung um den begrenzt kulturaffinen Ministerpräsidenten ausrief? „Die ist zu Ende.“ Rattle, so sagt er, habe um die Jahreswende Gespräche geführt. Aber Mauern einreißen, das sei nicht seine Art. Dass dieses Projekt nun kleiner dimensioniert wird, hat Rattle akzeptiert. „Unter eine gewisse Größe und Ausstattung kann man aber nicht gehen“, schiebt er nach. Und: „Nothing in Bavaria happens very fast.“ Man muss das nicht übersetzen.

Es gibt auch gerade Wichtigeres. Dass hier ein Orchester die erste gemeinsame Saison mit dem Chef genießt, ist mit Händen zu greifen, besonders zu hören. Schon vor den Proben ist Rattle auf dem Podium, hält Schwätzchen. Es ist seine Mischung aus Charme, Bestimmtheit und locker platziertem Wissen, die in der Orchesterarbeit verfängt – auch wenn ein Gag mal nicht zündet. Rattles Witz, das begreift man bald, ist eine Sonderform des britischen Understatements: Wenn es darauf ankommt, setzt er seinen Willen durch.

Beim Small Talk nach dem Konzert geht es vom Hölzchen aufs Stöckchen, vom Konzerthaus zu den zwei Hammerschlägen über den Musikverein als Idealort für Beethovens Sechste und die Akustik („Sie müssen hier langsam kochen.“), und dann klopft es auch schon an der Tür. Redezeit um. Draußen wartet die nächste Delegation. Es ist eine Art Kreuzigungsgruppe. Nach Ravel/Bruckner mit Argerich/Mehta und Mahler mit Rattle/BR naht die Wiener Akademie unter Martin Haselböck auf ihren Abendeinsatz – mit Bachs Matthäus-Passion.

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