Wo Anatevka genau liegt, das Schtetl, in dem Milchmann Tevje vom Glück und von einem kleinen bisschen Reichtum träumt – das hat Autor Scholem Alejchem vor über hundert Jahren für sich behalten. Irgendwo im russischen Zarenreich soll sich die Geschichte zugetragen haben, die als „Fiddler on the Roof“ am Broadway zum Welterfolg wurde. Manches spricht für Weißrussland, denn dort gab es Ende des 19. Jahrhunderts die meisten jüdisch geprägten Siedlungen.
In der fabelhaften neuen Inszenierung „Anatevka ist überall“, die jetzt am Münchner Hofspielhaus Premiere feierte, ist Anatevka aber in der Ukraine angesiedelt. Und das sorgt für beklemmende Aktualität. Bereits in Norman Jewisons Film von 1971 lag Anatevka in der Ukraine. Doch heute, nach dem russischen Überfall auf sein Nachbarland, ist die Brisanz so viel größer. Michael A. Grimm, als Polizist Tobias Hartl in den „Rosenheim-Cops“ und als Max Brunner in „Dahoam is Dahoam“ unterfordert, spielt in dem Ein-Mann-Stück einen kraftstrotzenden, gewitzten Tevje. Der Milchmann hadert zwar mit Armut und Graupensuppe. Aber er liebt seine Frau Golde und seine Töchter. Und er glaubt an die Lieder, mit denen sie in Anatevka gemeinsam feiern, die Juden und die anderen: „Wir sind alle Brüder.“
Doch dann stürzt Tevjes Welt zusammen. Der Zar braucht Sündenböcke, die Juden werden vertrieben. Der Milchmann sinkt verzweifelt auf die Knie. Grimm spielt eindrucksvoll und berührend, wie den eben noch so vitalen Tevje alle Kräfte verlassen. Parallelen zum neuen Zaren in Moskau und zur erneuten Vertreibung aus der Ukraine sind von den Regisseurinnen Christiane Brammer und Veronika Eckbauer genau so beabsichtigt. Doch ihre Heimat verlassen zu müssen – dieses Schicksal widerfährt nicht nur den Menschen in der Ukraine. Anatevka ist überall. JÖRG HEINRICH
Nächste Vorstellungen
am 22., 24. und 28. März; www.hofspielhaus.de.