Leben in der Musik

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Anna Enquist erzählt in „Die Seilspringerin“ von einer Komponistin – und von Joseph Haydn

VON SIMONE DATTENBERGER

Ein Mädchen als Bauplastik, also bildende Kunst, eine Komponistin, also Musik, und eine Schriftstellerin, also Literatur, treffen in „Die Seilspringerin“ zusammen. Ersterem wird schnell der Garaus gemacht. Die Abrisskugel zerschmettert die Wand, an der die hüpfende Kleine als Relief angebracht ist. Erhalten bleibt sie in dem nun auf Deutsch erschienenen Roman von Anna Enquist, Jahrgang 1945. Dessen Protagonistin Alice Augustus ist fasziniert von der Filmdokumentation über den Abbruch, kann die Kindergestalt nicht vergessen.

Erst allmählich erklärt sich im Gedankenstrom der Tonsetzerin, warum dies Bildnis und die Brutalität seiner Vernichtung so in ihrem Gedächtnis haften bleiben und in ihrer Seele heftig arbeiten. Die erfolgreiche 40-Jährige, ob in anspruchsvollen Werken, ob bei der „Brot“-Musik für Werbung, will unbedingt ein Kind bekommen. Lange schon quälen sie und ihr Mann sich – hierbei eben erfolglos – durch eine Fruchtbarkeitstherapie. Erfolg ist für Augustus eine Drohkulisse, die scheinbar die Umwelt für sie aufgebaut hat, und zugleich ein Instrument der Selbstquälung. Am Buchende reüssiert sie überwältigend: Die Uraufführung ihrer Komposition „Abriss“ wird bejubelt, und sie ist schwanger. Aber das Sich-Wohlfühlen torpediert sie sofort.

In diese Ereignisse flicht Anna Enquist, die Psychoanalytikerin war und Klavier im Den Haager Konservatorium studiert hat, den Lebenslauf von Alice Augustus ein – und den von Joseph Haydn (1732-1809). Er ist ihr Lieblings-„Kollege“ und begleitet sie nicht nur künstlerisch, sondern auch menschlich durch Höhen und Tiefen. Viele Bücher über ihn hat sie gelesen, seine Briefe bewegen sie tief. Sein Schicksal ist Korrektiv für sie, Hilfe und Ansporn: „Als sie am späten Abend nach Hause geht, denkt sie noch immer an die Lektionen, die sie von Haydn gelernt hat. Nicht aufgeben, auch wenn dich niemand ermutigt. Im Gegenteil, sie machen schlecht, was du so inbrünstig wünschst.“

Mit liebevoller Sorgfalt breitet Enquist zwei Musiker-Daseinsformen aus, ohne je langatmig zu werden. Wie es ist ganz allein unter Männern, am Konservatorium Komposition zu studieren. Wie es ist, jahrzehntelang in Bediensteten-Livree unfassbare Mengen für einen Fürsten Esterházy produzieren zu müssen und vom nächsten von heute auf morgen hinausgeschmissen zu werden. Abhängigkeiten, Eltern- und Eheprobleme, Selbstzweifel, Misstrauen – bei all dem ist der alte Österreicher der heutigen Niederländerin ein treuer Freund. Wie sie eigentlich viele Helferinnen und Unterstützer hat, diese Tatsache allerdings nicht recht zu würdigen weiß. (Selbst-)Sicherheit gibt es für Alice Augustus nur im Raum der Musik, des Komponierens. Es sind die schönsten Stellen im Roman, wenn davon erzählt wird und wenn ihre Tonschöpfungen wie „Die Witwer“ oder „Abriss“ durch das Wort literarisch real werden.

Anna Enquist:

„Die Seilspringerin“. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Luchterhand Literaturverlag München, 303 Seiten; 24 Euro.

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