Für den Privatgebrauch entstanden, nun auch öffentlich zu sehen: die Skizzenbücher Orhan Pamuks. © Jens Hartmann
„Anatomische Verortung des Liebesschmerzes“. © Hartmann
Pamuks Begegnung mit Paul Klees „Erzengel“. © Hartmann
Er führt tief hinein in seinen lebendigen Kosmos aus Literatur, die in die Realität herüberreicht: Orhan Pamuk, der 2006 als erster türkischer Schriftsteller mit dem Nobelpreis geehrt wurde. © Jens Hartmann
Und plötzlich stehst du mittendrin im Buch, fühlst dich ein bisschen wie Bastian Balthasar Bux. Dabei ist das hier nicht das Antiquariat von Karl Konrad Koreander, sondern das Münchner Lenbachhaus. Dennoch können die Gäste erahnen, was einst in Michael Endes jungem Helden aus „Die unendliche Geschichte“ vorgegangen sein muss. Phantásien heißt hier indes Istanbul, und der Magier, der diese Reise ermöglicht, Orhan Pamuk.
Der 71-Jährige, der 2006 als erster türkischer Autor den Literatur-Nobelpreis erhalten hat, ist freilich sehr viel mehr als ein Schriftsteller. Matthias Mühling, Direktor des Lenbachhauses, stellt ihn unter anderem vor als „Bibliothekar, Soziologe, er zeichnet, er malt und ist eine bedeutende politische Stimme“. Kurzum: „Er macht alles gleichzeitig.“ Die Städtische Galerie stellt nun in „Der Trost der Dinge“, kuratiert von Mühling und Melanie Vietmeier, die zahlreichen Facetten Pamuks vor. Es ist eine Ausstellung, die man nicht nur gesehen haben sollte, sondern die jeder Besucher, jede Besucherin erleben muss. Ein Glücksfall.
Im Jahr 2008 hat Pamuk „Das Museum der Unschuld“ vorgelegt, eine Liebesgeschichte, die – wie alle guten Liebesgeschichten – tragisch endet. Einige Zeit später eröffnete er in Istanbul, wo er 1952 geboren wurde, das gleichnamige Museum. „Ich habe einen Roman veröffentlicht, der zugleich als Katalog eines Museums funktioniert“, verrät er jetzt in München. „Buch und Museum erzählen dieselbe Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven.“
Es ist die Geschichte von Kemal, der Füsun kurz vor seiner Hochzeit mit Sibel kennenlernt. Die beiden verlieben sich unsterblich ineinander – und können aus diversen Gründen dennoch nicht für immer miteinander sein. Fortan sammelt Kemal Dinge aus dem Alltag der Angebeteten – und eröffnet schließlich das Museum, das dem Buch seinen Titel gab.
83 Kapitel umfasst Pamuks Werk – und 83 Vitrinen dokumentieren im „Museum der Unschuld“ die unmögliche Beziehung zwischen Kemal und Füsun. Es sind Schaukästen und Dioramen wie aus dem Kuriositätenkabinett. Ihre Gestaltung erinnert an die Ready-mades eines Marcel Duchamp. Jedes verglaste Schränkchen ist nach einer Überschrift aus dem Roman benannt. So übersetzt Pamuk seine Literatur nicht nur in die Realität, sondern fügt der Erzählung eine weitere, sehr sinnliche Ebene hinzu.
Postkarten, Fotos, Spielzeug, Kosmetik, Nippes, KaffeeTassen oder Raki-Gläser (von innen beleuchtet, wie einst bei Hitchcock), Toilettenartikel und, und, und – der Autor überwältigt mit Sinneseindrücken und kitzelt die Fantasie der Besucher. Unter anderem seine Installation „4213 Zigarettenkippen“ erinnert daran, dass Füsun Fördermitglied der Neigungsgruppe Nikotin ist.
Im Lenbachhaus sind 40 nachgebaute Vitrinen des Istanbuler Museums zu sehen. Ergänzt werden sie um neu kreierte, in denen sich der Künstler mit Werken aus den Kunstsammlungen in Dresden auseinandersetzt – sowie mit Arbeiten, die zur Sammlung des Münchner Lenbachhauses gehören. So ist Pamuk etwa in den Dialog mit Paul Klees „Erzengel“ (1938) getreten, aber auch mit Alfred Kubins „Das große Maul“ (um 1903). Seine Interpretationen zeichnen dabei ihre enorme Kenntnis und ein ebensolcher Witz aus. Die vom Autor verfasste kostenfreie Broschüre führt hier ebenso tiefer in die Zusammenhänge ein wie der Audioguide, in dessen englischer Ausgabe übrigens Orhan Pamuk auch selbst zu hören ist. Ein wunderbarer Erzähler. In vielerlei Hinsicht. MICHAEL SCHLEICHER
Bis 13. Oktober
Di.-So. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr;
Publikation zur Ausstellung
(Hanser Verlag): 33 Euro;
www.lenbachhaus.de.