Auf Augenhöhe: Cecilia Bartoli als Sesto und Daniel Behle als Tito, der in der Regie Robert Carsens ein italienischer Premiereminister ist. © Marco Borrelli
Ein Traum von Premierminister ist das. Hart, aber herzlich. Bestimmt, aber gerecht. Unbestechlich im Urteil, zugleich genau abwägend und mit Sinn fürs Soziale. Und wenn er ins Parlament kommt, begrüßt er zunächst die Hinterbänkler. Der Mann ist mutmaßlich ein Fall fürs SPD-Parteibuch beziehungsweise hier fürs italienische Pendant – und, wir ahnen es, in seiner ständigen Vergebungslaune auch gefährdet. Schon Opernlibrettist Metastasio träumte in den 1730er-Jahren von einem solchen Staatenlenker, ein paar Jahrzehnte später Mozart, der diesen Text verwendete, und nun tut es Robert Carsen bei den Salzburger Pfingstfestspielen.
„La clemenza di Tito“, Mozarts letzte Oper, ist als Auftragswerk ein Kniefall vor Kaiser Leopold II. Das lässt sich, so erfährt man aktuell im Haus für Mozart, problemlos verheutigen – weil der antike Kaiser auch anno 2024 als Modell eines Idealpolitikers taugt. Wir begegnen Tito also dank Ausstatter Gideon Davey und seiner schnellen Szenenwechsel zwischen Großraumbüro, Sitzungssaal und Parlament. Dunkle, kühle Wände rahmen das Geschehen, manchmal sitzt Volk auf der Tribüne. Nicht nur zur Staatsaktion kommt es, auch zu (gefährlichen) Liebschaften zwischen den Entscheidungsträgern. Und ständig überblendet sich alles, darin ja besteht die Tragik des Stücks.
Mal ganz abgesehen vom Konzept: Robert Carsen, in diesem Salzburger Festspielsommer auch für den neuen „Jedermann“ verantwortlich, ist ein Theaterhandwerker der Oberklasse. Beste alte Schule, die nicht im Dramaturgenschweiß badet. Man schaut zweieinhalb Stunden auf die Bühne, und alles stimmt. Auf- und Abtritte, die Balance der szenischen Mittel, die Kraftfelder zwischen den Figuren bis hin zur genau choreografierten Umkreisung der beiden an sich und der Welt verzweifelnden Protagonisten Tito und Sesto.
Wobei an diesem Abend vollkommen egal ist, ob der engste Freund des Titelhelden eine Hosenrolle ist oder nicht. Cecilia Bartoli trägt zwar Blazer und Hose in Schwarz, ihr Sesto ist aber ganz offensichtlich eine Frau, ebenso wie Annio. Ganz ohne Gender-Attitüde wird hier alles verhandelt in einer Selbstverständlichkeit, die Geschlechterrollen zur Nebensache macht. Auch das könnte man modern nennen.
Die Bartoli, seit 2012 Chefin der Pfingstfestspiele, hat sich mit der Produktion ein Geschenk gemacht. Obgleich sie die beiden Sesto-Arien unzählige Male gesungen und eingespielt hat, ist es ihr szenisches Rollendebüt. Natürlich ist die Stimme noch herber, rauer geworden. Aber sie gehorcht ungebrochen, ob im lyrischen Zärteln, auf Koloraturstrecken oder bei wie ungeschützten Ausbrüchen. Auch Dramatik erwächst bei dieser Wundersängerin aus der Kontrolle. Die Bartoli wusste schon immer genau, was sie kann und was nicht. Als Sängerin im fortgeschrittenen Karrierestadium formt sie nun das Existenzielle, das verzweifelte Ringen Sestos sogar plausibler, wahrhaftiger als Kolleginnen – die beiden Arien, hier bis zum Stillstand abgebremst, sind atemberaubende Zentren der Aufführung.
Dabei hat sie einen Sparringspartner auf Augenhöhe. Für einen Tenor ist der Tito die Quadratur des Kreises, und Daniel Behle schafft sie. Die Stimme hat im Heroischen dank Wagner-Erfahrung an Stabilität gewonnen, doch Geläufigkeit und feingliedriges Melos liegen ihm weiterhin und ebenso gut in der Kehle. Andernorts mag Tito in die Flachfigur driften, die ständig etwas verlautbart, dank Behle und Carsen ist sie in Salzburg ein tiefenscharfer, vielschichtiger, dreidimensionaler Charakter. Auch fast alle anderen Positionen sind festspielwürdig besetzt. Mélissa Petit als reife, entschlossene Servilia, Ildebrando D’Arcangelo als luxuriöser Publio und Anna Tetruashvili, noch im Opernstudio des Gärtnerplatztheaters (!), die eine alte Regel beglaubigt: In jeder guten „Tito“-Aufführung muss die Annio-Solistin problemlos den Sesto übernehmen können. Einzig Alexandra Marcellier fällt als Vitellia dagegen ab, ihr stumpfer Sopran klingt nach Überforderung durch Dramatisches. Bei Gianluca Capuano, Haus- und Hofdirigent der Bartoli, wirkt „Tito“ so, als sei der sturmdrängerische Mozart gerade erst ins Opernleben eingefallen. Schon die Ouvertüre startet von 0 auf 190. Ein atemloser Ritt durch die Partitur, überrumpelnd in seinem Furor und am Rand des Spielbaren. Das Cembalo mischt sich in die Arien und Ensembles ein, die Mittelstimmen verschaffen sich offensiv Gehör, und gern dürfen die Mitglieder von Les Musiciens du Prince – Monaco Verzierungen riskieren (wie übrigens auch das Gesangspersonal). Ein paar Mal spielen die Streicher eng am Steg und wagen sich ins Geräuschhafte, Kälte macht sich breit. Und oft tönt es so farben- und finessenreich, als habe Capuano ein paar Extrastimmen dazukomponiert.
Die Dauer-Erregung ist eine Antwort auf die Regie. Zweimal platzt unsere Aktualität ins Geschehen, ohne dass alles billig verheutigt wird. Am Ende des ersten Akts, wenn Sesto das römische Kapitol entflammt, zeigt ein alles überblendendes Video den Sturm des Trump-Mobs auf das US-Pendant. Und im Finale lässt Carsen alles in ein schwarzes Loch fallen, wenn der gerechte Tito von Vitellias Schergen (stückwidrig) erstochen wird, auf dass sie endlich die Macht übernehmen kann. So realistisch Carsen also erzählt, so zynisch schildert er eine Utopie: Politiker dieser Couleur sind zu gut für die Welt.
Weitere Vorstellungen
am 1., 3., 5., 8., 10.
und 13. August;
www.salzburgerfestspiele.at.