Mit einem speziellen Anzug und Hand-Sensoren macht Jörg Zuber Noonoouris Bewegungen vor. © Jens Hartmann
Süß, neugierig und gekleidet nach dem letzten Schrei: Noonoouri ist virtuelle Influencerin und Popstar. © Jörg Zuber
Jörg Zuber muss gehörig aufpassen, dass er sich in dem engen Büro nicht an den Schreibtischen anhaut. Der Zweimetermann mit Glatze und Bart trägt einen engen schwarzen Anzug, ähnlich einem Taucher. Er hat Handschuhe an, zusätzlich klemmen Sensoren an den Fingerkuppen. So hüpft er durch die Räume in einem Hinterhof am Gärtnerplatz, die Arme verdreht er wie zur Gymnastik. Auf dem Bildschirm seines Kollegen Pascal, der an einem der Schreibtische sitzt, sieht man eine zierliche Mädchenfigur – große braune Augen, lila Haare, schwarzes Cocktailkleid – exakt die gleichen Bewegungen vollführen wie Zuber. Wir sind Zeuge, wie Noonoouri – Influencerin und Popstar der Zukunft – zum Leben erweckt wird.
Erschaffen auf einem Münchner Hinterhof
Mancher Entertainer aus Fleisch und Blut erblasst da vor Neid: Noonoouri hat 400 000 Follower auf Instagram, ist bei der weltgrößten Modelagentur unter Vertrag. Naomi Campbell, Heidi Klum und Lewis Hamilton sind mit ihr befreundet, sie war auf dem Cover von „Vogue“ und „Cosmopolitan“ – und jetzt lässt sich auch ihre Karriere als Sängerin gut an. 200 000 Mal ist ihr Song „Dominoes“ mit DJ Alle Farben bislang gestreamt worden. Gute-Laune-Dance-Pop im Stil von Kylie Minogue und Dua Lipa. Nur: Noonoouri ist nicht aus Fleisch und Blut, sie ist eine Kunstfigur. Erschaffen in diesem Hinterhof am Gärtnerplatz, entsprungen dem kantigen Kopf mit den blauen Augen, der aus dem Taucheranzug ragt. Jörg Zuber schält sich aus dem Sensoren-Dress, mit dessen Hilfe (und allerhand Hollywood-Hightech) er Noonoouris Bewegungen steuert, und zieht sich wieder Pulli und Jogginghose an. „Auch wenn sie virtuell ist: Noonoouri entspringt keiner KI“, sagt er, breites Grinsen im bärtigen Gesicht. „Darauf bin ich stolz.“
Ein virtueller Popstar? Klar: Das Konzept „authentischer Künstler“ ist lange passé. Aber ein Popstar soll doch gefälligst in der romantischen Tradition sein Innerstes nach Außen kehren. Zumindest so tun. Das ist der Deal, und Oberflächlichkeit ist auch im Pop-Business noch der größte Vorwurf. Wenn da aber nichts ist außer Oberfläche? Und wieso legt Noonoouris Schöpfer Wert darauf, dass sie menschliche Bewegungen täuschend echt ausführt – hat sie aber kindlich-puppenhaft gestaltet und nicht, wie man sich einen Popstar vorstellen würde? Mit Sex-Appeal, als Rampensau?
Die Antwort auf all diese Fragen ist wohl, dass der Hüne Zuber mit dem Püppchen Noonoouri tatsächlich sein Innerstes nach Außen kehrt. „Als ich fünf Jahre alt war, war ich völlig introvertiert, ich konnte mich nicht mitteilen“, erzählt er. „Da dachte ich, es wäre doch schön, wenn ich eine Freundin hätte, die das ausdrückt, was mich beschäftigt.“ Also zeichnete er diese Freundin. Und sprach mit ihr über all das, was ihm zu Herzen ging: hungernde Kinder, Tiere, die nicht gut behandelt werden. Gezeigt hat er das Wesen niemandem. Denn das hätte – zusammen mit seiner Vorliebe für Hochglanz-Modemagazine – wohl nicht zu seiner Beliebtheit beigetragen. „Aber in meinem Kopf hat sich diese Figur manifestiert.“
Gut 30 Jahre, eine Ausbildung zum Werbekaufmann und eine Karriere als TV-Dienstleister später (Zuber gestaltete die Vorspänne von „Aktenzeichen XY“, „Heute Journal“ und „Germany‘s next Top-Model“), war die Zeit reif. „Ich wollte die Figur zum Leben erwecken.“ Denn Blogger und Influencer hatten Hochkonjunktur, genauso wie die Themen, die Zuber ansprechen wollte: Nachhaltigkeit, Achtsamkeit. Also sollte doch auch seine Freundin ihren Platz finden.
Es sah nicht gut aus: „Investoren habe ich keine gefunden“, sagt Zuber, „die wollten alle einen Avatar mit größeren Brüsten und sexy Po.“ Das war aber keine Option: „Ich wollte das Tragen von Pelzen kritisieren, die Beschneidung von Mädchen thematisieren.“ Zuber stemmte das Projekt auf eigene Faust und berichtete auf seinem Instagram-Kanal 2018 von der New York Fashion Week. Der Clou dabei: Noonoouri berichtete. Zuber hatte ihr virtuell die Couture der Designer angezogen – prompt kam eine Direktnachricht von Naomi Campbell: „Wer bist Du denn?“ Zuber muss heute noch grinsen, wenn er vom ersten Treffen mit dem Supermodel erzählt und vom Gesicht, das sie machte, als statt eines Mädchens ein mittelalter großer Mann daherkam. Bei Kim Kardashian erging es ihm ähnlich.
Jetzt gab sich das Who-is-Who der Modebranche die Klinke in die Hand, um sich mit dem neuen Phänomen blicken zu lassen. Noonoouri arbeitet außerdem mit Unicef zusammen, half virtuell dabei, in Kenia zwei Millionen Bäume zu pflanzen, macht sich für Feminismus stark. Sie tut dies in einem glamourösen Umfeld – für Zuber kein Widerspruch, denn er selbst lebt ja in diesem Spannungsfeld, seit er ein Bub war. Doch sei Noonoouri nicht aktivistisch. „Wir wollen nie mit erhobenem Zeigefinder auftreten, nur Aufmerksamkeit schaffen.“ Und das funktioniere am besten mit den drei C: „cute“ (süß), „curious“ (neugierig) und „Couture“.
„Für mich ein Traum wahrgeworden“, sagt Jörg Zuber. Doch der Erfolg seines achtsamen Avatars ist auch ein Kraftakt neben seinem Hauptberuf als Leiter einer Kreativagentur. Bis zum 15 Menschen kümmern sich um Noonoouri, ein Foto dauert in der Herstellung bis zu vier Tage, eine kurze Animation bis zu acht Wochen. Der „Dominoes“-Videoclip brauchte ganze drei Monate. Die Plattenfirma zeigt sich hochzufrieden mit ihrer neuen Kundin: „Sie ist der erste Digital Character, den wir als Warner Music Central Europe unter Vertrag genommen haben. Wir hoffen, bald weitere musikalische Pläne ankündigen und an ihre bisherigen Erfolge anknüpfen zu können.“
Live-Auftritte wie bei Abba-Avataren?
Das bedeutet noch mehr Stress für Zuber. Er ist ja schon froh, dass er seinem zweiten Ich das Singen beibringen konnte. „Ich selbst kann das nämlich nicht“, sagt der Hüne lachend. Da musste tatsächlich KI ran, die Zubers Sprechstimme modifizierte und mit einer gesungenen Vorlage vermengte. Demnächst findet die nächste Songschreiber-Zusammenkunft statt, in dem Künstler-Kollegen um DJ Alle Farben eine neue Single erarbeiten. Irgendwann folgt vielleicht ein Album. Es gehe in die Richtung Billie Eilish oder Björk – „aber nicht depressiv, immer in Farbe“. Und irgendwann ein Live-Auftritt, wie die Abba-Avatare in London? „Das wäre mega!“, meint Zuber. „Ich sehe mich schon hinter der Bühne herumhampeln.“ JOHANNES LÖHR