Im arktischen Eis steckt diese Expedition fest – und trifft auf eine geheimnisvolle Frau (Anita Giovanni Rosati, re.). © Christian Krautzberger
Und wenn Ötzi gesprochen hätte? Was hätte er erzählt von seinem Dorf, seinem Gang in eisige Höhen, einem vielleicht gewaltsamen Tod im Schnee und den vielen tausend Jahren am Südtiroler Tisenjoch bis zum Fund 1991? Seine entfernte Verwandte aus der Arktis hat immerhin diesen Vorteil: Nach ein paar Artikulationsproblemen, bei denen nur Vokalisen in hohen Lagen herauskommen, hat sie eine Botschaft an die Menschheit. Und die ist so besorgniserregend wie blutig. Ice nennt sich die eingefrorene Frau, sie ist Mittelpunkt der Oper „Anthropozän“. Stuart MacRae, schottischer Komponist, und Louise Welsh, erfolgreiche britische Autorin, haben sich für den Zweistünder zusammengetan. 2019 war Uraufführung in Glasgow, Bielefeld spielte das Stück als erstes deutsches Haus nach, nun folgte das Salzburger Landestheater mit der österreichischen Erstaufführung. Der Titel deutet darauf hin: Das ist mehr als ein Thriller im Schnee. „Anthropozän“ ist das Zeitalter ab Mitte des 20. Jahrhunderts, ab dem sich der Mensch die Erde nicht mehr nur untertan machte, er begann mit ihrer Zerstörung.
Vorerst sind Harry King, millionenschwerer Eigentümer des Forschungsschiffs „Anthropocene“, und seine Besatzung im Klammergriff des arktischen Eises. Von wegen Klimawandel: Nichts geht mehr. Auf der Bühne des Landestheaters braucht es dafür nicht viel. Agnessa Nefjodov (Regie) und Volker Thiele (Bühne) deuten mit wenigen Elementen ein Schiffsdeck an. Als alles zufriert, fährt hinten ein weißer Rundhorizont nach oben. Und als Ice in einem gefrorenen Block entdeckt wird, wird dieser aus dem Unterboden nach oben gehievt.
Unter der Besatzung kommt es zum Zielkonflikt. Ist die prähistorische Frau wichtiger? Oder, für den Journalisten, dass mit Harry King ein Promi im Eis feststeckt? Der Journalist sabotiert das Funkgerät und tötet einen Seemann, als seine Manipulation entdeckt wird. So weit die Landschaft in diesen Breiten ist, so sehr ist „Anthropozän“ ein Kammerspiel, das unterschiedliche Charaktere zusammenpfercht. Man kennt das aus Literatur und Film, „Alien“ folgt dem Prinzip. Und das fremde Wesen, ob Monster, Außerirdischer à la E.T. oder hier eine aufgetaute Frau, wird zum Katalysator, zum Spiegel der Menschen, die ihre Situation reflektieren – und im besten, seltenen Fall verstehen.
Stuart MacRae schreibt in typischer angelsächsischer Tradition dazu eine Well-made-Music. Die ist meist heftig bewegt, in Dauer-Erregung und auch naturalistisch im Doppelsinn: Die feindliche, kalte Natur wird in kühl oszillierenden Klangflächen abgebildet und das innere Geschehen der Beteiligten nach außen gestülpt. Viel Instrumentationsfantasie ist im Spiel, die Zutaten sind beim ersten Hören nachvollziehbar. Ergebnis ist eine fassbare, plastische Musik, die sich gern auch mal der Tonalität nähert. Ein wenig fehlt die Fallhöhe: Die ständige Vehemenz klingt auch nach übertourigem Hamsterrad im Leerlauf.
Manchmal verdichtet sich alles zu ariosen Momenten oder Duett-Situationen großer Intensität. Teilweise lassen MacRae und Welsh Handlungen in Ensembles parallel laufen, die Regie begegnet dem mit zwei Zimmer-Situationen, die hinter dem weißen Rundhorizont sichtbar werden. Leslie Suganandarajah, Musikdirektor des Landestheaters, geht mit dem Salzburger Mozarteumorchester in die Vollen, macht aber auch Schichten und Details plausibel. Manches überfährt im kleinen Haus Sängerinnen und Sänger. Die haben ohnehin mit kniffligen Partien zu tun. Wie sich alle hineinwerfen, wie sie sich identifizieren und sich kühn in dieser Klangwelt bewegen, das nötigt höchsten Respekt ab. Man höre nur die heftigen Ausschläge und Verzierungen, die William Ferguson als Harry King bewältigt. Oder die stratosphärischen, wie unwirklichen Phrasen, die Anita Giovanni Rosati als Ice spannt.
Doch wie dem Eis entkommen? „Anthropozän“ mixt Krimi mit Moralischem, Ökologischem, auch Mystischem. Letzteres, kurz vor dem Eso-Alarm, bringt das Stück leicht in Unwucht. Ice, so verrät sie in einem ausgreifenden Monolog, sei von ihrem Volk geopfert worden. Der Kälte-Einbruch konnte dadurch aufgehalten werden. Selbiges passiert auf dem Schiff nun mit einem Mord, als die Wissenschaftlerin Dr. Prentice den journalistischen Saboteur Miles abknallt. Die Rettung von außen kann kommen – um den Preis eines weiteren Sündenfalls.
Weitere Vorstellungen
am 29. Mai sowie 7., 11. und 15. Juni; Tel. 0043/ 662/ 871 51 22 22.