Charismatisch, schillernd, exaltiert: Teodor Currentzis sorgt demnächst auch bei den Salzburger Festspielen für ausverkaufte Abende. © Anton Zafjyalov
Er trägt keine Springerstiefel mehr, keine roten Schnürsenkel und keine hautengen Jeans. Viele Jahre hat sich Teodor Currentzis als Klassikrebell inszeniert, der sich nicht um Etikette schert und auch gerne mal beim Dirigieren seinen Bizeps zeigte. Bei seinem vorletzten Programm als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters betritt Currentzis im schwarzen Anzug mit unauffällig-eleganten Konzertschuhen die Bühne des Festspielhauses Baden-Baden.
Der Grieche mit russischem Pass hat sich zumindest äußerlich verändert, seit er wegen seiner fehlenden Distanzierung zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine noch stärker im Fokus der Öffentlichkeit steht – als wollte er sein undurchsichtiges Verhalten mit optischer Seriosität kompensieren. Beim Auftritt mit dem SWR Symphonieorchester schenkt er dem Publikum ein Lächeln und beginnt umgehend mit der Musik.
Es dauert ein wenig, bis sich in Dmitri Schostakowitschs zweitem Klavierkonzert der von Kirill Gerstein ganz präzise gespielte Solopart perfekt mit dem Tutti verzahnt. Aber das ändert sich schnell. Der gedämpfte Streicherklang im Largo trägt spürbar die Handschrift Currentzis’. Wie eine Hülle umgibt er den Solisten. Dieser magische Klang ist kaum zu orten, so perfekt verbinden sich alle zu einem sanften Kollektiv.
Dabei sah es nach der 2016 in Kraft getretenen Fusion zwischen dem Radiosinfonieorchester Stuttgart und dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gar nicht gut aus um das neue Orchester. Man spürte damals bei jedem Konzert, dass hier zwei selbstständige Klangkörper mit unterschiedlicher Tradition zusammengepresst wurden, ohne einen gemeinsamen Plan zu haben. Mit dem Chefdirigenten Teodor Currentzis änderte sich das. Er betrachtete es als Herausforderung, aus diesem heterogenen, zwangsfusionierten Ensemble einen Klangkörper zu formen. Seine akribische Arbeit am Klang, sein ausgeprägter Sinn für Balance und Dramaturgie machten das Orchester homogener und expressiver.
Mit dem charismatischen, exaltierten, international begehrten Dirigenten hatte der SWR eine schillernde Gallionsfigur, der für meist ausverkaufte Konzerte sorgte und das Orchester wieder in die wichtigen Konzerthäuser und in die Medien brachte. Dass Currentzis pro Saison nur zwei bis drei Programme dirigierte, Abläufe kurzfristig umstellte, selten vor Ort war und die gesellschaftliche Rolle eines Chefdirigenten nicht ausfüllte, nahm man in Kauf. Eine Distanzierung des in St. Petersburg lebenden Currentzis vom russischen Angriffskrieg verlangten Teile der Öffentlichkeit, nicht aber der Orchestervorstand und das Management. Dass dessen eigenes Ensemble MusicAeterna von im Westen sanktionierten Firmen wie Gazprom und der russischen VTB Bank gesponsert wird, störte schon mehr.
Aber Teodor Currentzis verändert nichts – auch nicht, als das SWR Symphonieorchester wegen seines hartnäckigen Schweigens von Kölner Philharmonie und jüngst von den Wiener Festwochen ausgeladen wurde. Das Management saß die Kritik aus. Und hoffte am Ende auf mehr Präsenz und mehr Glaubwürdigkeit seines Nachfolgers, den designierten Chefdirigenten François-Xavier Roth ab kommendem Jahr, dem nun aber ganz aktuell sexuelle Belästigung in mehreren Fällen vorgeworfen wird (wir berichteten).
Dass Currentzis, der sicherlich kein russischer Nationalist ist, wohl aber als Opportunist bezeichnet werden kann, für die unmittelbar bevorstehende Abschiedstournee gerade das „War Requiem“ des mutigen Pazifisten Benjamin Britten ausgewählt hat, hat einen bitteren Beigeschmack.
International halten ihm einige Veranstalter auch mit seinem neu gegründeten Orchester Utopia die Treue. Das Eröffnungskonzert der Salzburger Festspiele mit Bachs Matthäus-Passion ist längst ausverkauft. Auch für die Wiederaufnahme der umstrittenen Inszenierung von Mozarts „Don Giovanni“ gibt es kaum noch Karten – mutmaßlich, weil Teodor Currentzis am Pult steht. GEORG RUDIGER