NEUERSCHEINUNG

Wie antisemitisch war Goethe?

von Redaktion

W. Daniel Wilson befasst sich in einer ausführlichen Studie mit dem Weimarer Giganten

Als „veralteten Unsinn“ betrachtete Johann Wolfgang von Goethe Religion im Allgemeinen: Gemälde von Julie Gräfin von Egloffstein (1792-1869) nach Karl Stieler. © dpa Picture-Alliance / Toni Schneiders, Beck-Verlag

„Man kann Goethe ohne viele Umschweife als Judenfeind bezeichnen.“ Ein hartes Urteil, das am Ende seines Buches „Goethe und die Juden“ der amerikanische Germanist und Autor W. Daniel Wilson fällt. Aber: Es ist ein Fehlurteil. „Wenn Goethes Reisewagen 1790 auf der Rückfahrt von seiner zweiten italienischen Reise am Brennerpass umgekippt und er dabei verunglückt wäre, würde man heute anders über seine Haltung zu den Juden urteilen.“ Das schreibt der Professor, der zuletzt in London lehrte. Er meint damit, dass mit zunehmendem Alter sich des Dichters Haltung den Juden gegenüber verschärft habe.

Es ist müßig, darüber zu streiten. Denn die sehr ausführliche, fleißige, in Teilen auch gewinnbringende Abhandlung gebraucht als Rechtfertigung für diese Annahme vor allem Adverbien wie „wenn, vielleicht, eventuell, gewiss, vermutlich, offenbar, möglicherweise“ und so weiter. Logisch, nämlich in Wilsons Beweisführung für eine massiv antijüdische Einstellung Goethes zählt einzig das, was sich in der schriftlichen Hinterlassenschaft des Dichters finden lässt. Und das ist ziemlich wenig. Da greift der Goethe-Spezialist vornehmlich auf „Dichtung und Wahrheit“, „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ sowie das frühe Lustspiel „Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“ zurück. Und in der Tat sind hier Splitter zu entdecken, die den damals gängigen Klischees, der alltäglichen Judenfeindschaft und klamaukigen Komödien-Häme in deutschen Landen entsprachen.

Das „tiefgreifende Vorurteil“ gegenüber Juden habe Goethe „mit der Muttermilch in Frankfurt eingesogen“, will uns Autor Wilson weismachen. Das könnte sogar stimmen, denn die Familie Goethe wohnte nicht weit von der Judengasse entfernt, dem Frankfurter Ghetto, in dem die armen Juden unter skandalösen sozialen Verhältnissen und mit den schärfsten Repressalien der Frankfurter Bürgergesellschaft lebten. Dennoch hat es den damals Zwölfjährigen sehr interessiert. Er besuchte und studierte die Synagoge und nahm wissbegierig bei einem Lehrer Unterricht in Jiddisch.

Ja, auch davon erzählt in seinem Buch W. Daniel Wilson. Immer wieder betont er Goethes Ambivalenz den Juden gegenüber. Wilson schreibt über ihn, dass er sich in öffentlichen Ausführungen oder schriftlichen Selbstzeugnissen meist als Judenfreund schildere, stets bedacht auf seinen späteren Nachruhm; in privaten Äußerungen jedoch, die zumeist nicht belegt werden können beziehungsweise nur aus zweiter oder dritter Hand überliefert sind, habe er antijüdische Vorbehalte und Verachtung preisgegeben. Wobei er hauptsächlich die Händler und Geldverleiher, die Armen und Hausierer gemeint habe, nie die Gebildeten, Erfolgreichen, Genialen. Es ging Goethe, der bekanntermaßen ein für seine Zeit unglaublicher Freigeist war, immer um die Religion, die er als „veralteten Unsinn“ ansah. Die politische Zäsur in der Geschichte der Juden bildet die Französische Revolution von 1789. Das war der Beginn der Judenemanzipation in Europa.

1791 erklärte Frankreich alle Juden des Landes zu seinen Staatsbürgern. Und mit seinem Siegeszug trug Napoleon 1807 die volle Emanzipation der Juden in die besiegten Gebiete des neu geschaffenen Rheinbundes. Goethe, der sich ja schon der Revolution gegenüber konservativ verhalten hatte, soll, wenn es auch keine eindeutigen Belege dafür gibt, nicht davon begeistert gewesen sein. In Jena hatte es ein altes Gesetz gegeben, nach dem jüdische Händler nicht in der Stadt übernachten durften. Unter Napoleon fand das keine Beachtung mehr. Nach dessen Niederlage aber und dem Ende der französischen Herrschaft schrieb Goethe 1816 in einem Brief an seinen Freund, den Kunstsammler und -historiker Sulpiz Boisserée in Heidelberg: „Diese löbliche Anordnung dürfte gewiss künftig hin besser als bisher aufrecht erhalten werden.“ Wirklich konkret äußerte er sich 1823 über das neue Gesetz zur Eheschließung zwischen Juden und Christen, das er als „skandalös“ einstufte, vor allem hinsichtlich der familienpraktischen Folgen wie Kindererziehung und religiöse Identität. Er frage sich, so wie es den Jahrzehnte später erfolgten Aufzeichnungen von Canzler von Müller zu entnehmen ist, „ob nicht überhaupt der allmächtige Rothschild dahinter stecke“. Wenn das nicht Satire war…

Bei aller Skepsis und auch Ungerechtigkeit dem Weimarer Giganten gegenüber kommt Wilson nicht drum herum, ihm teilweise Respekt zu zollen für seine absolute Freiheit im Denken und für die Achtung, die er jeder begabten und interessanten Persönlichkeit entgegenbrachte, egal welcher Religion sie auch angehört habe. Der gelöste und freudige Umgang mit jüdischen Frauen und Männern während seiner regelmäßigen Kuren im Nobelort Karlsbad sprechen dafür.

Worin aber der eigentliche Gewinn bei der Lektüre von Wilsons sehr sprödem, lehrhaftem Buch besteht, ist die detaillierte Auffächerung der Geschichte zur gesellschaftlichen Emanzipation und Verbürgerlichung der Juden in Deutschland Ende des 18. sowie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit all ihren Widersprüchen und Verwerfungen in jener Zeit. SABINE DULTZ

W. Daniel Wilson:

„Goethe und die Juden –
Faszination und Feindschaft“. Verlag C. H. Beck, München,
352 Seiten, 29,90 Euro.

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