Ungewohnt elegant und ohne Imponiergehabe klingt Bruckners fünfte Symphonie unter Lahav Shani. Mit seinem Rotterdam Philharmonic Orchestra hat er sie gerade eingespielt. © Tobias Hase
In der letzten halben Stunde maskiert sich der Komponist. Anton Bruckner als Johann Sebastian Bach. Mit einem rotzfrechen, von der Klarinette vorgetragenen Thema und später einem weiteren, aus beiden erhebt sich eine riesige Doppelfuge. Ein monumentalisierter, explodierter Barock ist das, was hier im Finale von Bruckners fünfter Symphonie passiert. Auf mehrere Weisen könnte man das spielen lassen. Als Gscheidhaferl-Deutung, in dem die komplizierte Konstruktion mit ihren Themen-Einsätzen, -Variationen und -Umwertungen wie unterm Röntgenschirm erpuzzelt wird. Oder als Imponiergehabe, das Hörerinnen und Hörer mit der Klangwalze überfährt. Oder eben so wie Lahav Shani.
Die Fünfte gehört zur Münchner DNA
Im Herbst 2026 übernimmt er bekanntlich den Chefposten bei den Münchner Philharmonikern. Bruckner gehört bei diesem Ensemble, nicht erst dank Sergiu Celibidache, zur DNA. Und die Fünfte, die komplexeste der neun Symphonien, ist eines der Signetstücke. Eben jenes hat nun Shani, 35 Jahre jung, mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra eingespielt, mit jener Formation also, die er demnächst zugunsten der Münchner Philharmoniker aufgeben wird. Es ist, dies sei gleich verraten, eine Aufnahme mit Referenzcharakter geworden. Eine Interpretation des dritten Wegs.
Wie die Münchner sind die Rotterdamer Warmblüter. Der Klang ist weich, elastisch, wohlgerundet. Und genau darauf baut Shani auf. Zu erleben ist eine Fünfte von ungewohnter Eleganz. Vieles ist in Samt gepackt, behutsam angefasst und gebettet, doch lässt Shani nicht mit Weichzeichner musizieren. Auch er weiß (wie das Orchester) um die unzähligen Details des Finales. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der alles aufgerollt wird, die Natürlichkeit des symphonischen Flusses, die nie präpotenten Bläser, die sogar manchmal mit feinem Witz spielen, all das ist frappierend.
Es ist, nach der Siebten, Shanis zweite Bruckner-Einspielung mit den Rotterdamern. „Man kann über Bruckners Beziehung zur Religion, zu Gott und zur Spiritualität sprechen, und vielleicht hat dies den größten Einfluss auf die Atmosphäre der Musik“, hat Shani der britischen Zeitschrift „Gramophone“ gesagt. „Aber es gibt auch schöne melodische Linien und einen Sinn für Kantabilität und Fortführung. Ich versuche nie, eine bestimmte Interpretation aufzudrängen.“
Genau dies hört man aus dieser Einspielung heraus. Nie spürt man, dass ein Pultmann das Orchester mit Vehemenz und Temperament treibt oder dass er seine verpanzerten Vorstellungen durchzusetzen versucht. Diese Fünfte ist von innen nach außen entwickelt. Aus einem, ein Paradox angesichts der dafür aufgebotenen Hundertschaft, kammermusikalischen Geist. Aus einem verständnisvollen Miteinander. Und damit wird auch klar, warum Mitglieder der Münchner Philharmoniker bei der Verkündung von Shanis Vertragsabschluss verbal fast den Hals dargeboten haben im Schwärmen vom neuen Chef: Dieser Künstler, der auch hervorragend Kontrabass und Klavier spielt, ist einer der Ihren. Ein Dirigent auf Augenhöhe.
Dass es mit Shani nicht die früher üblichen Bruckner-Weihestunden gibt, versteht sich von selbst. Das Andante verströmt sich nicht, wird zügig genommen. Die Streicher-Begleitung in diesem merkwürdig pendelnden Satz lässt Shani genau formulieren, alles verebbt dann in einer Leere, wie eine offene Frage. Und wenn es wie im folgenden Scherzo an Bruckners Wurzeln im Volkstum geht, hat Shani dafür ebenfalls ein Sensorium: Es ist ein Landler der gepflegten Art, den die Rotterdamer hier tanzen.
Die Interpretation scheint zu irritieren
„Bruckner ist nicht für uns da, um zu fragen, ob er dies oder etwas anderes gemeint hat“, sagt Shani. „Er hat Musik geschrieben, die so viel mehr ist als diese Dinge, Musik, die so tiefe menschliche Emotionen vermittelt.“ Wobei, auch dies vermittelt seine Interpretation, bei Shani nichts gefühlig wird oder, das scheint seinem Selbstverständnis zu widersprechen, hemdaufreißend. In einer Zeit, in der Aufführungen und Einspielungen mehr über die Interpreten statt übers Werk erzählen, mag Shanis Deutung sogar irritieren. Und sollte er sich in München zu einem Bruckner-Zyklus durchringen, lässt sich schon jetzt behaupten: Da kommt Großes auf uns zu. MARKUS THIEL
Anton Bruckner:
Symphonie Nr. 5. Rotterdam Philharmonic Orchestra,
Lahav Shani (Warner).