Erkenntnisse aus der Lebensmitte: Beth Gibbons sorgt solo und mit ihrer alten Band Portishead für Aufhorchen. © Eva Vermandel
Ein blutendes Herz, umflutet von cooler Musik: Als vor 30 Jahren das erste Album der britischen Band Portishead erschien, war man wie vom Donner gerührt angesichts der Gegensätze, die einem da entgegenschlugen. Seinerzeit stand die Sample-Kultur in voller Blüte, und das Kollektiv aus Bristol machte reichlich Gebrauch von vergessenen alten Jazz- und Filmmusik-Schnipseln, die wie Echos zu schweren Trip-Hop-Beats herumgeisterten. Darüber sang Beth Gibbons den Blues wie eine liebeskranke Hexe: Sie klang, als würde sie ihre waidwunde Seele komplett offenlegen.
Jetzt ist Gibbons wieder da. Und die 59-Jährige singt auf ihrer ersten reinen Solo-Platte noch genauso zerbrechlich und schön wie immer. „Lives Outgrown“ nahm sie über einen Zeitraum von zehn Jahren auf – während sie gerade so viele andere Aktivitäten unternahm, dass man sie nicht gänzlich vom Radar verlor. So begleitete sie das Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks und gastierte im Song „Mother I Sober” des Rap-Superstars Kendrick Lamar.
Ihre eigene Musik machte währenddessen ziemliche Veränderungen durch. „Ich war auf der Suche nach dem richtigen Schlagzeugsound“, erinnert sie sich. Aber nichts passte, also trat sie frustriert einen Pappkarton durchs Studio – und kam zu dem Schluss, dass das besser klang als alles, was sie zuvor ausprobiert hatte. Sie holte den früheren Talk-Talk-Drummer Lee Harris ins Boot – dessen alte Band ja auch Experten in Leisetreterei waren –, und der schlug Rhythmus sodann auf mit Erbsen gefüllten Tupperdosen und anderen Alltagsgegenständen. Produzent James Ford (u.a. Arctic Monkeys) brachte verrückte Sounds wie mit dem Löffel angeschlagene Klaviersaiten mit.
Das Resultat ist trotz aller Experimente ein getragenes, organisches, geradezu klassisches Folk-Album geworden, mit akustischen Gitarren und Streichern – ein Album, das hörbar in der späten Lebensmitte entstanden ist. „Floating on a Moment“, das sich von einer simplen Bassfigur zu einem strahlenden Refrain aufschwingt, bringt es auf den Punkt: „Alles, was wir haben, ist das Hier und Jetzt.“ Die Lehre aus so manch bitterer Erfahrung: Sie habe „viele Abschiede“ erlebt, sagt Gibbons. Abschiede von der Familie, von Freunden, sogar von ihrem früheren Ich.
Ihr früheres Ich – zumindest als Künstlerin – kann man in seiner ganzen Pracht auf Portisheads zeitlosem Live-Dokmument „Roseland NYC Live“ erleben, das quasi zeitgleich wieder veröffentlicht worden ist. Am 24. Juli 1997 spielten Portishead mit einem 28-köpfigen Orchester im New Yorker Roseland Ballroom. Das Debüt „Dummy“ lag knapp drei Jahre zurück, die zweite LP „Portishead“ war noch nicht veröffentlicht. Wie Gibbons hier die mittlerweile längst Klassiker gewordenen Songs „All Mine,“ „Glory Box“ oder „Sour Times“ zelebriert und dabei in einem Atemzug niedergeschlagen und sexy klingen kann, ist immer noch der helle Wahnsinn. JOHANNES LÖHR
Beth Gibbons / Portishead
„Lives Outgrown“ ( Domino).
„Roseland NYC Live“ (Universal).