BUCHKRITIK

Die Macht der Verleumdung

von Redaktion

Autorin Rivka Galchen schreibt eindrucksvoll über Hexenverfolgung

Rivka Galchen taucht tief in die Materie ein. © Nina Subin

„Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist.“ © Rowohlt

„Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist“ heißt der neue Roman von Rivka Galchen, einer New Yorker Schriftstellerin, die 1976 in Toronto geboren wurde. Überraschend ist, dass sie sich nicht mit den Hexenverfolgungen in den USA beschäftigt, sondern auf das Herzogtum Württemberg kurz vor dem Ausbruch und zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs (1618–1648) schaut. In ihrer Danksagung merkt sie an, dass sie sich eigentlich mithilfe von Ulinka Rublacks umfassender Darstellung „Der Astronom und die Hexe. Johannes Kepler und seine Zeit“ über den frühen Naturwissenschaftler informieren wollte. Aber eine Kleinigkeit „ergriff mein Herz“, berichtet sie. Dass sich der Nachbar von Katharina Kepler (1547–1622), der als ihr Rechtsvertreter fungiert hatte, von dieser Aufgabe lossagte, habe die Idee zu einem fiktionalen Text hervorgelockt.

Galchen hat sich energisch in die Materie eingearbeitet; oberflächliches Frühbarock-Wischiwaschi gibt es nicht. Es rauschen keine edlen Gewänder durch hübsche Schlösser, und üppig getafelt wird keinesfalls. War und ist das Leben für die Kätherlin Keplerin, wie sie sich selbst nennt, ohnehin meist ein Überlebenskampf – und nicht nur für sie –, rückt das Folter-Grauen nach der Vorladung 1615 gefährlich nahe. Beim schmierigen Untervogt Einhorn in Leonberg wird sie von einem halbseidenen Paar wegen Hexerei verklagt. Die Leserschaft erfährt im Roman alles aus erster Hand, denn die Analphabetin kann ihrem Nachbarn Simon Sattler ihren Bericht diktieren.

Rivka Galchen modelliert aus der Art und Weise, wie die Keplerin erzählt, kommentiert, spottet, analysiert und gewichtet den starken, bisweilen dickschädeligen und lebenstüchtigen Charakter dieser Frau in einer frauen- und menschenfeindlichen Männerwelt. Ebenso wird Simon eine Stimme gegeben, damit er aus seiner Sicht die Angelegenheit schildert und damit er seine feinfühlige, allerdings (über-)empfindliche Seelenstruktur darlegen kann.

Seltsam blass bleibt der berühmte Sohn (1571-1630), der doch so eisern um das Leben seiner Mutter kämpfte. Seine prekäre Stellung als Forscher wird zwar öfters angetippt – die Zeit war längst nicht reif für naturwissenschaftliches Denken (ist sie es heute?). Die Autorin hätte die innere Beziehung von dem Widerstand gegen seine Erkenntnisse zu dem blödsinnigen, gehässigen Verleumdungsgerede in den Zeugenverhören über die Schwarze Magie der Keplerin noch knackiger herausarbeiten müssen.

Gerade darin liegt die Aktualität des Romans. Keinesfalls können wir hochnäsig auf jene Menschen herabblicken. Sie hatten nur eine winzige Chance zu lernen und dann nur zensierte Inhalte. Wir jedoch besitzen eine Fülle von verfügbarem Wissen und fallen doch auf Ablenkung, Lügen und bösartiges Geschwurbel herein. SIMONE DATTENBERGER

Rivka Galchen

„Jeder weiß, dass deine Mutter eine Hexe ist“. Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg. 316 Seiten; 24 Euro.

Artikel 10 von 11