Ein starkes Ensemble: „Kassandra“ ist die Abschlussarbeit des vierten Schauspiel-Jahrgangs der Bayerischen Theaterakademie August Everding. © Cordula Treml/Theaterakademie
Dumpfes Dröhnen durchdringt den Raum. Dann wummern Bässe bis in die Magengrube, und im zuckenden Blitzlicht zucken auch die Akteure mit spastisch-krampfigen Verrenkungen über die Bühne. In diesem Moment zwischen Ausdruckstanz und Epilepsie sind sie abwechselnd alle Kassandra, die Crash-Prophetin aus mythischer Vorzeit, die einen Anfall bekommt, als sie den Untergang ihrer Heimatstadt Troja voraussieht, der aber niemand glaubt. Klar, Prophetien sind kein Ponyhof, und wer vertraut schon einer Verrückten, einer Besessenen oder Psychotikerin, wie wir heute sagen würden.
Die Szene ist jedenfalls eine der besten in dem Bühnenprojekt „Kassandra – Echos aus Troja“, dem Abschluss-Stück des 4. Jahrgangs Schauspiel der Theaterakademie August Everding. Der Abend im Münchner Akademietheater stellt eine Collage von Texten aus Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ (1983) sowie aus einer Euripides-Übertragung des Literaturwissenschaftlers Walter Jens dar.
Und offenbar hat sich Regisseur Thomas Lettow, sonst vor allem als Schauspieler des Münchner Residenztheaters bekannt, durch dieses literarische Echo aus Vorwende-Zeiten verleiten lassen, die Aufführung im Achtzigerjahre-Retrostil zu gestalten: von spröden „Showeffekten“ wie einem Ascheregen über leicht wortlastigen Minimalismus bis hin zu den antikisierenden, schmutzig-weißen Kostümen (Ausstattung: Leonie Wolf) fühlt man sich an Dieter-Dorn-Inszenierungen in den Kammerspielen erinnert. Da kommen bei reiferen Zuschauern direkt nostalgische Gefühle auf, aber auch inhaltlich sind die verwendeten Texte sowas von „vintage“, dass sie wie wehe Kassandrarufe in unsere schneidigen Zeiten herüberhallen.
So erfahren wir, dass tote Helden in Wirklichkeit nicht heroisch, sondern nur „ein Klumpen rohes Fleisch“ sind und dass „Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet“. „Besser die Schaufel als das Schwert“, lautet die defätistische Folgerung, die an „Schwerter zu Pflugscharen“ erinnert, und alles mündet in die Einsicht: „Als ob es Sieg gäbe, wenn doch Menschen sterben!“ Muss solcher „Lumpenpazifismus“ nicht jede Kriegstüchtigkeit untergraben?
Da möchte man zum Ausgleich wenigstens den Nachwuchsschauspielern gern eine rosigere Zukunft prophezeien. Die zwei Männer und sechs Frauen, die alle sowohl als Chor wie als Solisten auftreten, fanden nach kurzer Anfangsnervosität bald ihre Mitte und Hochform: Soraya Bouabsa, Pauline Grossmann, Kevin Knobloch, Max Koltai, Lisa Moskalenko, Cagla Sahin, Emma Stratmann und Anouk Warter zeigen nicht nur solides Können beim darstellerischen Umgang mit klassischen oder neueren Texten, sondern auch beachtliche körpersprachliche Fähigkeiten. Vor allem aber nimmt man ihren Figuren das verzweifelte Entsetzen über die Schrecken des Krieges und der Gewalt ab: kein Wunder bei Vertretern einer Generation, die quasi über Nacht als potenzielles Kanonenfutter zumindest wieder im Gespräch ist. Bleibt also nur zu hoffen, dass diese gelungene szenische Horrorvision keine wirklich seherischen Qualitäten hat. Langer, herzlicher Beifall. ALEXANDER ALTMANN
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