Irgendwo zwischen 60 und 90. Das ist der Ruhepuls eines gesunden Menschen. Doch diese Angabe ist letztlich Wissenschaft, so korrekt wie nüchtern. Der Schauspieler und Beatboxer Conrad Ahrens dagegen macht zum Auftakt von „See the Music – and dance!“ sehr sinnlich erfahrbar, dass „Beats per Minute“ nichts anderes sind als unser ureigenster Rhythmus, die Musik unseres Körpers.
Johanna Richters neue Inszenierung, die jetzt im Schwere Reiter in Münchens Kreativquartier uraufgeführt wurde, sprengt Grenzen im Wortsinn. Im leeren Raum, reduziert beleuchtet (Licht: Hans-Peter Boden), trifft Tanz auf Schauspiel, auf Musik und Videokunst. Die Ausgangsfrage der Choreografin ist dabei so simpel wie vertrackt: Wie sieht man Musik? Oder, weiter gefasst: Was stellen Töne mit uns, unseren Körpern, unseren Seelen an? „See the Music – and dance!“ ist dabei nicht nur eine Spurensuche auf der Bühne: Unter den Sitzreihen sind Lautsprecher verbaut, sodass der Rhythmus dieses Abends ganz unmittelbar zu spüren ist. Und zu sehen: In der Tiefe des Raumes projiziert Philipp Kolb Live-Videos auf die Wand, in denen Wasser, Sand, Steinchen im Takt der Musik pulsieren. Und die hat es in sich: Während der tänzerisch-theatralen Reise, auf die Richter ihre zwei Perfomerinnen und zwei Performer schickt, erklingen Arvo Pärt (Jahrgang 1935), John Cage (1912-1992) sowie der 1936 geborene Steve Reich. Pianist Zoran Imširovic und Soundschürfer Conrad Hornung an Rechner und Reglern interpretieren die Kompositionen konzentriert und weben daraus energisch einen mitreißenden Fluss aus Musik.
Obwohl das Duo den weiten Raum zwischen sich hat, ist sein Spiel von enormer Präzision. Eine besondere Leistung, gerade bei den minimalistischen Tonfolgen, den Redundanzen und Schleifen, die den Werken aller drei Tonschöpfer zu eigen ist. Die Klanggebilde, die Imširovic und Hornung nach und nach in den Theaterraum schichten, sind Grundlage und Motor, sind Spiegel und Kontrapunkt für die Tänzerinnen Erica D’Amico und Amie Georgson, ihren Kollegen Chris-Pascal Englund-Braun sowie Ahrens. Richter macht den Schauspieler zum Teil ihrer Choreografie, um zu verdeutlichen, wie sehr die Bewegung zur Musik in der Natur aller Menschen liegt.
Jedes Mitglied des Quartetts schält sich aus der Dunkelheit, scheint mit dem Körper die Tonfolgen zu ertasten. Vor allem der Beginn von „See the Music – and dance!“ ist dabei von enormer Intensität, Behutsamkeit und Schönheit. D’Amico setzt mit dem Klang einen Schritt vor den anderen und scheint mit jeder einzelnen Note ihren Fuß minimal weiter abzurollen. Nach gut einer Viertelstunde berühren sich zwei Menschen zum ersten Mal – und eröffnen damit das Feld für die unendlich vielen Spielarten des Lebens zwischen Anziehung und Abstoßung.
Dramaturgisch geschickt schraubt Richter dabei die Wucht ihrer Choreografie immer weiter. Das hat Tempo, ist spannend und faszinierend – bis zum heftigen Herzschlagfinale. Auf der Bühne, aber auch im Publikum, liegt der Puls da längst jenseits der 60 bis 90 Beats per Minute. Aus Aufregung, vor Glück. Voller Energie. MICHAEL SCHLEICHER
Weitere Vorstellungen
am 22. und 23. Juni;
www.schwerereiter.de.