Am Gefrierpunkt der Menschlichkeit

von Redaktion

Twardoch schickt seinen Helden in „Kälte“ nach Sibirien

Sibirisches Straflager in den 1920er-Jahren: Der Anti-Held in Szczepan Twardochs Roman erlebte die stalinistischen Säuberungen und wurde in den Norden Russlands verbannt. © SZ Photo

Das „Notizbuch des Konrad Widuch“, das mit dem 16. Juni 1946 als festgeschriebenes Datum beginnt, setzt mit einer fundamental-existenziellen Frage an: „Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?“ Dieser Konrad Widuch ist der Held – oder auch Anti-Held – in Szczepan Twardochs neuem Roman. Widuch ist gebürtiger Schlesier. Als 14-Jähriger hat er seine Heimat verlassen, er war 1918 beim Matrosenaufstand in Kiel dabei. Mit dem Trotzkisten Karl Radek ging er ins revolutionäre Russland. Dieser Mann – anfangs durch und durch überzeugter Bolschewist – hat die stalinistischen Säuberungen erlebt, ebenso schwere Folter im Arbeitslager, dieses lag im sibirischen Norden.

Morden, als gäbe es nichts anderes

„Kälte“ lautet der kurze und klare Titel von Twardochs Roman. „Kälte“ – das ist einmal geografisch gemeint: Sibirien, die ganze Arktis. „Kälte“ – das ist zudem die Unmenschlichkeit, die den Roman wie eine tödliche Schlinge zusammenhält. Der Diktator Stalin und seine Schergen lassen jegliche Humanitas erstarren. Und machen aus jenen wie Konrad Widuch ebenfalls Unmenschen, weil sie im Willen zum Überleben zu Mördern werden.

Im Roman „Kälte“ wird vergewaltigt und gemordet, als gäbe es nichts anderes. Als Twardochs Held mit Mitgefangenen einen Arbeitsauftrag außerhalb des Gulags erledigen soll, planen sie die Flucht. Es kommt zum Kampf: „Ich sprang also sofort zu ihnen, hieb zuerst Rabane in den Rücken, in den Rücken Rabane, klingt fast wie ein Gedicht, aber so schlug ich zu, mit der Schneide längs zum Rückgrat, gleich darauf noch einmal quer, dass ich das Krachen der berstenden Wirbel und der Rippen hörte und Rabane erschlaffte.“

Solche geschilderten Gewaltexzesse, die für Twardochs Held irgendetwas mit Lyrik zu tun haben sollen, finden sich in „Kälte“ an vielen Stellen. Am Schluss dieser Szene hat Konrad Widuch alle getötet und kann fliehen. Doch einen sadistischen Häftling lässt er am Leben und hackt ihm dafür beide Hände ab. Auch wenn Widuch nicht bibelfest ist, das Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist ihm geläufig.

Konrad Widuch gelangt auf seiner Abenteuerreise durchs ewige Eis auch zu einer Art Urvolk. Die Glücklichen haben weder etwas von Stalin noch vom Kommunismus gehört. Die Männer lieben ihren selbst gebrannten Schnaps, und nach reichlichem Konsum gelüstet es ihnen nach den Frauen, die sich recht willig ihnen ergeben. Widuch, ein geschätzter Gast bei diesem Urvolk, erhält seine eigene Sklavin. Hier bei diesen Naturburschen entweicht die Kälte, schmilzt das Eis, denn der Autor Szczepan Twardoch gerät ins Schwärmen: Hier, irgendwo in der Arktis, muss das Paradies liegen.

Der Roman wird durch eine Rahmenerzählung zusammengehalten: Ein Schriftsteller, der sehr viel Ähnlichkeit mit Szczepan Twardoch hat, bekommt das „Notizbuch des Konrad Widuch“ in die Hände. Er schreibt es ab. Was er damit schlussendlich machen wird, erfährt die Leserschaft nicht. Doch sie erfährt, dass der Schriftsteller möglicherweise mit Konrad Widuch mütterlicherseits verwandt sein könnte. Und die beiden haben eines gemeinsam: Es sind Männer, die das Eis, die Kälte lieben, Männer, die mit Schiffen und Waffen umgehen können.

Es sind also richtige Männer. So wie es im Roman richtige Frauen gibt. LGBTQ-Sympathisanten, aber auch erotisch-feinsinnige Geister finden in diesem Text sicher kein Plätzchen am wärmenden Herd. Szczepan Twardochs „Kälte“ ist ohne Zweifel ein gut erzählter Abenteuerroman. Doch der Tiefsinn des Erzählten liegt bei Twardoch irgendwo im ewigen Eis vergraben. Was bleibt also nach der Lektüre seines Romans? Kälte, einfach Kälte. ANDREAS PUFF-TROJAN

Szczepan Twardoch:

„Kälte“. Aus dem Polnischen
von Olaf Kühl. Rowohlt, Berlin, 428 Seiten; 26 Euro.

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