Wintermärchen unter der Sommersonne

von Redaktion

Probenbesuch bei den Bregenzer Festspielen, wo Philipp Stölzl den „Freischütz“ auf die Seebühne bringt

„Ein Lebensglück“: Philipp Stölzl arbeitet zum zweiten Mal in Bregenz, 2019 und 2021 wurde hier Verdis „Rigoletto“ in seiner spektakulären Inszenierung gezeigt. © Eva Cerv

Bessere Tage hat dieses Pferd gesehen – es wird eine teuflische Kutsche ziehen. © Eva Cerv

Seit Anfang Juni wird auf der Seebühne geprobt. Bis 18. August wurden 28 Aufführungen angesetzt. © Dietmar Mathis

Nessie spukt in der Bodenseevariante durch die Handlung – für die Wolfsschlucht braucht es Grusel-Effekte. © Eva Cerv

In einem versunkenen, verfallenen Dorf spielt der neue „Freischütz“. Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl verspricht: „Wir denken die Seebühne komplett neu.“ © Anja Köhler

Da sind zwar diese Gewitterzellen, aus den Alpen rücken sie heran. Doch das Regenradar auf dem Handy zeigt: Die ziehen an Bregenz vorbei. Und nun dieses Grollen, sogar Donnerschläge, sehr nahe muss das sein. Man schaut aus dem Fenster von Philipp Stölzls Büro hoch über der Seebühne und später ins Gesicht des grinsenden Regisseurs. Alles Fake, alles von der Tonspur aus zig Lautsprechern. So täuschend echt, dass die 7000 Besucherinnen und Besucher Abend für Abend sehr stark sein müssen: Ob über dem Bodensee tatsächlich ein Unwetter droht oder nur alles Teil der Inszenierung ist, das lässt sich in diesem Sommer nicht so genau sagen.

Es ist ein Spiel mit den Ängsten und daher sehr passend für Carl Maria von Webers „Der Freischütz“. Erstmals wird das Stück auf der Seebühne gegeben. Für Philipp Stölzl, auch noch im Kino („Der Medicus“), im Schauspiel („Andersens Erzählungen“ am Residenztheater) und früher im Musik-Video (Madonna) aktiv, ist es das zweite Mal. Die deutsch-romantische Schauermär schlechthin wählte er 2005 für sein Opern-Debüt, damals in Meiningen. „Meine Sicht auf das Stück hat sich nicht verändert“, sagt der 57-Jährige. Sein Prinzip dabei: „Umarme die Gruselschote.“

Seit Anfang Juni wird in Bregenz geprobt. Stölzl, gestählt durch die Logistik seiner Kino-Blockbuster, ist schon weit vorangeschritten, vor allem aber ruhig. Mit dem Headset steht er auf der Tribüne neben dem überdachten Regie-Pult, auch, als ein kurzer Schauer (also doch!) hernierdergeht. Knappe Anweisungen über die Lautsprecher („Fass ihn ruhig fester an“), keine Unterbrechungen. Und als der böse Kaspar seine Peitsche im Kahn vergessen hat, um ein Pferde-Skelett anzutreiben, die kurze Bemerkung in Richtung Assistentin: „Kannst du ihm die bitte bringen?“

„Freischütz“-Experten dürften das Stück kaum wiedererkennen. Stölzl hat mit Jan Dvorak nicht nur die Dialoge neu geschrieben, auch Teile der Texte in den Musiknummern. Tümelndes Biedermeier gibt es nicht mehr. Dafür eine Neubewertung der Frauenfiguren Agathe und Ännchen. Die seien doch im Original „irre altmodisch“, sagt Stölzl. „Die stehen immer nur zu Hause am Fenster und warten auf den Mann. Außerdem haben sie etwas Weinerliches. Ob man diese Frauen wirklich auf der Bühne noch sehen will?“

Auch der teuflische Samiel ist anders. Ein Gnom im roten Overall, ein Mephisto, der durch den Abend führt, auf Bäume und Häuser klettert, kommentiert, unterbricht, auch mal mit greller Stimme mitsingt und ansonsten in Reimen à la „Faust“ spricht. „Opern-Puristen müssen da vielleicht schlucken“, meint Stölzl. Das Gros der Vorstellungen bestreitet Moritz von Treuenfels aus dem Ensemble des Residenztheaters, ab und zu vertritt ihn Niklas Wetzel vom Schauspiel Leipzig.

2019 und 2021 hat Stölzl den Bregenzer Festspielen mit „Rigoletto“ ein Verdi-Spektakel beschert, im Zentrum ein riesiger Narrenkopf. Wer nun auf die Seebühne blickt, ist verblüfft. Es ist Winter geworden, mitten im Sommer. Ein versunkenes, zerstörtes Dorf. Ein Kirchturm ragt schräg aus dem Wasser, am rechten Rand steht ein Pferde-Gerippe. Verfallene Häuser, Schnee liegt auf einem Hügel, kahle Bäume, Kunststoff-Eisschollen treiben auf dem Wasser. Stölzl, der stets in Giga-Dimensionen denkt, hat als sein eigener Bühnenbildner dafür einen gewaltigen Pool bauen lassen. Was für ein Paradox: ein Bassin im Bodensee.

Wer davor sitzt, schaut mal hier-, mal dorthin, entdeckt immer wieder neue Details und ahnt: Das driftet eher ins Wimmelbild mit Möglichkeit für viele Parallelhandlungen „Bisher wurden in Bregenz immer große Skulpturen in den See gesetzt“, sagt Stölzl. „Die ermöglichen zwar tolle Fotomotive, sind aber nicht unbedingt ein idealer Theaterraum. Das Bühnenbild ist dabei oft so stark, dass es die Figuren schwer haben, dagegen anzuspielen. Dieses Jahr ist es ganz anders als sonst. Es ist tatsächlich der Versuch, die Seebühne komplett neu zu denken.“

Und das ist noch nicht alles. Der Normalfall in Bregenz ist die große, durchkomponierte Oper – abgesehen von Mozarts „Zauberflöte“, die der frühere Intendant David Pountney herausbrachte. Eine „tolle Gefühlspartitur, deren Breitwandmusik den Abend und und die Bühne fast automatisch füllt“ (Stölzl) bietet der „Freischütz“ gerade nicht. Eine halbe Stunde wurde aus dem Stück gestrichen. Dialoge und Musiknummern sind nun eng verzahnt. „Mit Techniken, die man aus dem Musical kennt. In der klassischen Oper wechselt sich die Arie mit dem Rezitativ oder dem Sprechtext ab, bei uns durchdringt und verdichtet sich vieles. Dazu gibt es jede Menge Toneffekte, heulende Wölfe, knarzendes Eis, Schüsse, Donner und so weiter.“

Wenn man so wolle, sei dies die erste Schauspiel-Inszenierung auf der Seebühne, sagt Stölzl. Intendantin Elisabeth Sobotka, die Bregenz nach diesem Sommer Richtung Berliner Staatsoper verlässt, ist die Stufen aus der Chef-Etage hinuntergestiegen zum Regie-Pult. Einmal Goethes „Faust“ auf der Seebühne, das wäre doch auch eine „super Idee“, sagt Stölzl an sie gewandt. Sobotka lächelt. „Ich glaube nicht.“ Sie hat Stölzl zum zweiten Mal an den Bodensee geholt. Der „Freischütz“ war seine Idee. Der sei ihm einfach sympathischer gewesen als die zweite „Bohème“ oder die dritte „Carmen“.

Dass er sich mit Webers Oper eine der härtesten Nüsse des Musiktheaters vorgenommen hat, ist ihm bewusst. Ein Stück, nicht Fisch, nicht Fleisch, aber mit herrlicher Musik. Eine Beschwörung dunkler deutscher Romantik, gespeist aus den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, die heute – gerade textbedingt – ins Lächerliche driften kann. Stölzl verortet den „Freischütz“ sogar „in der Giftkammer des Opernbetriebs, gerade weil so viele an ihm scheitern“.

Sein Rezept dafür ist dasselbe wie für alle seine Arbeiten. Keine Dramaturgenkrämpfe also, keine intellektuellen Verrenkungen, sondern sinnliches, verzauberndes, totales Theater. Bei manchem ist Stölzl deshalb als Populist verschrien, als einer, der Publikumserwartungen eher bedient, anstatt zu konfrontieren. Doch der Erfolg ist seine beste Bestätigung. Für Stölzl, der gern groß denkt, ist der „Freischütz“ hier die beste Spielwiese. „Jedes Mal, wenn ich eine Inszenierung gesehen habe, die dem mit Konzepttheater begegnet, ging das schief. Weil: Wenn man diesen Kitsch nicht mag, diesen Grusel, wo die Fensterläden klappern und die Eule ruft, dann sollte man das Stück nicht machen.“

Aber ob der Stücktitel zieht? Die Verantwortlichen waren vorsichtig. 26 Vorstellungen wurden inklusive der Premiere am 17. Juli geplant. Doch die Nachfrage war groß, zwei zusätzliche Abende wurden angesetzt. Wenn der Vorverkauf so weiterläuft, werden nach der Dernière am 18. August rund 199 000 Menschen diesen „Freischütz“ erlebt haben, 2025 gibt es die Wiederaufnahme.

Unangestrengtes Breitwandtheater

Wie immer spielen die Wiener Symphoniker, die nebenan im Festspielhaus sitzen und deren Ton in erstaunlich guter Qualität auf die Seebühne übertragen wird. Am Pult steht Enrique Mazzola, er ist so etwas wie der Bregenzer Chefdirigent. Für Philipp Stölzl ist das hier eine Art Arbeitsurlaub, auch wenn er es nie so formulieren würde. Endlich raus aus den Probenräumen, den fensterlosen Theatersälen oder den Studios, raus an die Luft, ans Licht oder, kommt ja vor, in den Regen. „Ich liebe es total, hier zu arbeiten. Ich mag diese Art von Breitwandtheater. Alles ist so touristenlässig und unangestrengt. Es ist ein Rahmen, der nicht krampfhaft Kunst sein will. Und trotzdem arbeiten alle Tag und Nacht mit extremer Leidenschaft und Energie. Ein Lebensglück.“ MARKUS THIEL

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