Kleine Zeichen, große Wirkung

von Redaktion

„Siegfried“-Wiederaufnahme bei den Tiroler Festspielen

Vorsicht, Kampfmaschine: Anthony Robin Schneider ist als Fafner der effektvollste Auftritt vergönnt. © Xiomara Bender

Von Frauen hat dieser Mann mit Riesenbärchencharme schon gehört. Aber wenn’s dann zur Erstbegegnung kommt? Klar, dass mangels Erfahrung Scheu bis Panik überwiegen. Und nie und nimmer, obgleich das in 95 Prozent aller „Siegfried“-Aufführungen passiert, würde daher der Held der schlummernden Brünnhilde einen Schmatz auf den Mund drücken. Im Passionsspielhaus Erl sinkt er vor dem Quader, auf dem die Walküre liegt, hernieder – und küsst ihre Füße. Scheu und ergriffen, wobei Letzteres in dieser Sekunde auch manchem im Zuschauerraum passiert.

Genau diese kleinen, lebensweisen, hintergründigen Zeichen sind es, die den „Ring des Nibelungen“ in der Regie von Brigitte Fassbaender bei den Tiroler Festspielen so groß machen. Besonders im dritten Akt, wo zuvor Wotan bei seiner On-Off-Beziehung Erda vorbeischaut und die ebenfalls Erwachende mit Schampus ködert. Auf den zweiten Blick, bei der Wiederaufnahme der 2023 herausgekommenen Produktion, offenbart sich allerdings noch stärker: Vieles ist aus der Improvisation geboren. Aus der Not, mit dem fast techniklosen Haus zurechtzukommen. Dass bei der Fassbaender in Zusammenarbeit mit Ausstatter Kaspar Glarner daraus eine Tugend mit menschelndem Theaterzauber wird, ist das Plus der Erler Großtat.

Nah dran bleiben an der Gesangsriege und an den Wagner-Figuren, ohne szenische Krücken, das ist die hohe Schule der Regie. Es ist ein letztlich sehr intimer „Siegfried“, der aber das Geschehen ums nahe Welten-Ende nicht verkleinert. Was sich verändert hat seit 2023: Dirigent Erik Nielsen ist schneller, dringlicher geworden. Anfangs muss er im gewohnt samtig tönenden Festspielorchester ein paar Straucheleinheiten abfangen. Doch dann labt man sich an der Detailarbeit und am nie präpotenten Klang. Nur im Finalakt hätte Nielsen auf die Bremse treten müssen: Simon Bailey geht in den instrumentalen Wogen, die aus der Hinterbühne heranbranden, etwas unter.

Ohnehin ist dieser Wotan/Wanderer nicht auf Überwältigung aus, sondern aufs rhetorisch eloquente Florett. Vincent Wolfsteiner, obgleich kein begnadeter Schauspieler, ist als Siegfried ein Konditionswunder. Keine Phrase ist ein Sparprogramm: Der Mann weiß einfach, wie man sich die Riesenrolle zurechtlegt. Peter Marsh singt die Mime-Partie tatsächlich und lässt sie nicht zur Karikatur werden, Christiane Libor ist als Brünnhilde souveräner, noch ton- und textbewusster als 2023. Thomas de Vries, neu im Ensemble, singt einen so hohlwangig tönenden wie baritongefährlichen Alberich und Zanda Svede eine sehr substanzreiche Erda. Ilia Staples macht deutlich: Auch in Extremlagen kann man den Waldvogel noch verstehen. Und Anthony Robin Schneider hat mit seinem Fafner aus dem Notenkeller den effektvollsten Auftritt: als Kampfmaschine mit Flammenwerfer. Ungetrübter Jubel – in dem auch die Erleichterung mancher Regie-Geschädigten mitschwingt.
MARKUS THIEL

Weitere Aufführung

am 26. Juli; Informationen zum gesamten „Ring“ und zum Programm des Festivals unter www.tiroler-festspiele.at.

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