OPERNFESTSPIELE

Stille Hölle der Liebe

von Redaktion

„Pelléas et Mélisande“ als beste Premiere der Saison

Explosion der Gefühle: Golaud (Christian Gerhaher) bedrängt Yniold, seinen Sohn aus erster Ehe. © Wilfried Hösl

Verbotene Gefühle: Pelléas (Ben Bliss) nähert sich Mélisande (Sabine Devieilhe), der Frau seines Bruders Golaud. Für das Paar geht das tödlich aus. © Wilfried Hösl

Irgendwann wird einfach weitergegessen. Weil die Mahlzeit sonst kalt wird. Oder weil über Unaussprechliches keiner reden will und kann. Die abendliche Tafel ist das Schlachtfeld des Großbürgertums. Und gekämpft wird nicht mit offenem Visier und donnerndem Geschütz, sondern mit Andeutungen: hier eine beschwichtigende Hand auf dem Arm des anderen, dort ein langer Blick, dazu leise Sätze, kurz, stereotyp und verletzend.

Viel schlimmer ist das manchmal als eine Explosion, dort, wo Etikette und Tradition eine Familie mühsam in der Balance halten. In München ist es besonders peinvoll, weil Regisseurin Jetske Mijnssen die Höllenfahrt dieser Sippe als einen dreieinhalbstündigen Zeitlupen-Unfall aufrollt. „Pelléas et Mélisande“ ist im Prinzregententheater nicht raunendes, symbolistisches Märchen mit einsamen Frauen im Wald oder Liebespaaren in Grotten. Mijnssen hat die Natur aus dem Fünfakter verbannt. Alles passiert im Schloss Allemonde, das in diesem Fall eine Gründerzeitvilla ist: Claude Debussys einzige Oper spielt hier um die vorletzte Jahrhundertwende.

Zu sehen gibt es – fast nichts, zumindest, was die Ausstattung von Ben Baur betrifft. Eine schmale Spielfläche mit erlesenem Parkett, ein Tisch, Stühle. Einmal das Schlafzimmer, in dem Golaud gerade rechtzeitig aufwacht, als sich Mélisande seinem Bruder nähert. Und hinter allem gähnt das Schwarz. Gleichzeitig ist die Bühne bis zum Bersten gefüllt, mit (meist verdrängten) Emotionen, mit subtilen Informationen und Zeichen. Pelléas, der aus der Art geschlagene Familiensprössling, ist hier Maler – und sein Porträtieren von Mélisande eine erotische Annäherung quasi über die Bande der Kunst. Sie wird ihren Ehering nicht verlieren, sondern wegwerfen. Und als sie später vom Clan-Chef Arkel begehrt wird, ist das keine offene #MeToo-Situation, sondern viel unterschwelliger – als er mit der Hand auf den leeren Couch-Platz neben sich deutet.

Es ist die letzte Premiere der Staatsopern-Spielzeit, die zweite bei den Opernfestspielen, und es die beste der Saison. Ein Straßenfeger wird „Pelléas et Mélisande“ nie, der zwar heftige, aber kurze Beifall klingt auch im Prinzregententheater nach Achtungserfolg. Und doch ist das eine Regie-Arbeit von enormer theatraler Qualität. Eine, die das Gesangspersonal nicht in die choreografierte Bewegung zwingt, sondern auch zur Eigeninitiative einlädt: Völlig natürlich, absichtslos-absichtsvoll begegnen sich die Figuren, die sich verlagernden Kraftfelder spürt man umso stärker.

Ihren Psycho-Realismus bricht Jetske Mijnssen mehrfach. Ambiente und Kostüme lassen zwar an Historisierung denken, gleichzeitig wird alles durch einen leuchtenden, stets präsenten Bilderrahmen ferngerückt. Wie ein sich bewegendes Gemälde aus alter Zeit. Das Seitenlicht verursacht Schatten auf den Gesichtern und damit auf vielem mehr. Und je mehr diese Familie implodiert, desto stärker driftet alles in den Surrealismus. Das schmale Wasserbassin vor dem Handlungssteg gibt es plötzlich vervielfältigt. Und der gemordete Pelléas tritt wieder auf, als er der sterbenden Mélisande ihr Neugeborenes zeigt: alles Einbildung also?

Der Einzige, eine böse Pointe, der die Fesseln der Wohlerzogenheit zerreißt, ist ausgerechnet der betrogene Bruder. Christian Gerhaher gibt einen Golaud von latenter Aggressivität, der seine Gefühle bis zum Amoklauf durchbrennen lässt. Einen harten, grauen Baritonklang hat er sich dafür angewöhnt. Nur einmal kommt er ins Flehen – als er Mélisande um Verzeihung bittet. Es ist ein falscher Lyrismus. Und dass Gerhaher nun Debussy singt (früher war er mal Pelléas), das tut ihm ausnehmend gut. Seine Differenzierungskunst ist zwar ungebrochen, das Entwickeln des Gesangs aus dem Sprechduktus. Doch anders als sonst gerät Gerhaher nicht ins extreme Verfeinern oder Puzzeln – er sollte öfters abseits des deutschen Fachs unterwegs sein.

Ben Bliss als Pelléas bietet dazu mit hellem, schmalem, selbst in der Tiefe resonanzreichem Tenor den passenden Kontrast – und auch, als smarter Rebell, in seinem Auftreten. Wer diese Mélisande eigentlich ist, was sie bewegt, das lässt Sabine Devieilhe kunstvoll offen. Die stimmliche Süße, das fein modellierte, elegante Vokalrelief, die minutiös platzierten Akzente und Farbveränderungen, all das macht sie zu einer singulären Rollenvertreterin. Als diese Mélisande ihr A-cappella-Lied anstimmt, hält das (sonst hustende) Publikum endlich den Atem an. FranzJosef Selig (Arkel) und Sophie Koch (Geneviève) machen die Gebrochenheit des alten Paares plausibel. Felix Hofbauer vom Tölzer Knabenchor glückt als Yniold das erstaunliche Charakterporträt eines traumatisierten, trotzdem selbstbewussten Kindes.

Umso überraschender, was sich im Graben abspielt. Hannu Lintu, wie die Regisseurin erstmals von der Staatsoper gebucht, hält nichts vom Klangmurmeln, das andere Dirigenten bei Debussy erzeugen. Solche Feinheiten hört man schon auch. Doch mit dem Bayerischen Staatsorchester wird deutlich, wie viel Farbsattes bis Drastisches in der Partitur steckt, wie konkret Debussy werden kann und wie offen er das Innenleben seiner Figuren ausspielt. Manchmal geht das zulasten von Sängerinnen und Sängern, ein paar Unschärfen schleichen sich auch ein.

Eine Deutung der anderen Art ist das, die auf aparte Weise zum Gegenspieler der Regie wird. Wie diese Familie endet, das lässt Jetske Mijnssen offen. Mélisande, dieser Eindringling, ist zwar tot und damit entfernt, doch die Brüder und die ältere Generation bleiben am Ende auf sich selbst zurückgeworfen. Das nicht gezeigte Bild nach dem Schlusston könnte ein Abendessen sein. Zumindest darin hat der Arkel-Clan ja Übung.
MARKUS THIEL

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