Georg Nigl ist der Mann fürs Abgründige. © Anita Schmid
Georg Nigl verkörpert das andere Salzburg. Der Wiener Bariton ist der Mann fürs Abgründige und die Besonderlinge unter den Opernfiguren. 2023 machte mit seinen „Nachtmusiken“ Furore, die Reihe wird heuer fortgesetzt. Außerdem wirkt er an Dallapiccolas Oper „Il prigioniero“ mit.
Warum geben Sie beim größten Klassikfestival die kleinsten Konzerte?
Weil die Intensität und Intimität des Kunsterlebnisses in diesem winzigen Rahmen einfach unüberbietbar sind, vergleichbar mit dem Vorlesen einer Gutenachtgeschichte am Bettrand. Die Menschen haben etwas Unglaubliches erlebt – und wir auf der Bühne auch. Als Kind der Avantgarde habe ich schon so viel zeitgenössische Musik gemacht und denke über jedes Format neu nach. Mir geht es um Inhalt, das „Event“ ist immer das Stück.
Bei den „Nachtmusiken“ singen Sie Bach, Mozart, Schubert …
…und August Diehl liest! Im Bach-Programm „Komm süßer Tod“ Texte bis herauf zum Ukrainekrieg, das wird schön und hart zugleich. Mozart dürfen wir dank der Stiftung Mozarteum auf seinem Clavichord musizieren. Auf dem Deckel sind noch seine Tintenflecken! Dazu kommen Texte über Mozart, zum Beispiel von Haydn. Und als Drittes eine Art Schubertiade, mit Texten von den Nazis verfemter und verfolgter Autoren.
Ist der klassische Liederabend ein Auslaufmodell?
Im Starsystem und im Verein mit großen Plattenverträgen hat das früher noch sehr gut funktioniert. Und es wird immer herausragende Stimmen geben, bei denen quasi egal ist, was sie singen. Aber wir haben über das Format viel zu lange nicht nachgedacht, über das immer enger werdende Repertoire, über die Instrumente, über den Ort, eigentlich Salon und Wohnzimmer. Das hat allerdings auch viel mit der Hilflosigkeit und Einfallslosigkeit der Veranstalter zu tun.
In Salzburg sind Sie auch mit Arnold Schönbergs „Buch der hängenden Gärten“ zu hören sowie mit Luigi Dallapiccolas Oper „Il prigioniero“.
Die Noten der „Hängenden Gärten“ liegen seit 20 Jahren bei mir herum: grandiose Musik, aber eine wahnsinnige Arbeit! Als ich mich einmal nach einer Probe erschöpft hinlegen musste, hörte ich meine kleine Tochter, wie sie unbekümmert trällernd meine Gesangslinie nachgemacht hat. Es war bei ihr aber doch eher selbst komponiert als originaler Schönberg. Vor der Partitur des „Prigioniero“ gehe ich in Dankbarkeit auf die Knie: Das ist für mich eine der wichtigsten und schönsten Opern des 20. Jahrhunderts. Es geht um einen Freiheitskämpfer, der glaubt, aus dem Kerker fliehen zu können – spannend wie Hitchcocks „Vertigo“.
Wie im Jahr 2022 Rihms „Jakob Lenz“ kommt heuer auch „Il prigioniero“ konzertant …
In unserer Zeit wird das Sehen immer wichtiger, das Hören immer schwieriger. Es kann deshalb ein Vorteil sein, manche Stücke auf das reine Hören zurückzuführen, damit wir von der Eventisierung der Regie wegkommen. Und das sage ich als Kind des „Regietheaters“. Dessen berühmt-berüchtigte Vertreter hat man vor Jahrzehnten an die Oper geholt. Anfangs haben sie gesagt, sie beherrschten das Metier eigentlich nicht. Heutzutage glauben längst alle, sie könnten es. Und das ist genauso falsch, wie wenn Intendanten glauben, die Inszenierung könnte der größte Publikumsmagnet werden. Nein, man kommt wegen der Menschen auf der Bühne und im Graben!
Sie haben gerade in München mit François-Xavier Roth gearbeitet, der wegen der Vorwürfe sexueller Belästigung in Köln aus seinem Vertrag als GMD entlassen wurde.
Ich war schockiert und traurig darüber, gerade bei einem so außerordentlichen Künstler. Der Fall zeigt, dass noch immer große Defizite bei unserem Führungspersonal vorhanden sind. Offenbar werden sie nach wie vor in ihrer Ausbildung zu wenig sensibilisiert. Mir hat einmal ein namhafter Intendant gesagt, er habe sich in mich verliebt. Wie soll man auf so etwas reagieren in der Position eines Künstlers, der engagiert werden möchte? Damit waren plötzlich sämtliche Auftritte hinfällig. Aber abgesehen von dem, was allenfalls Gerichte zu entscheiden haben: Wenn jemand sein Fehlverhalten eingesteht, sich bei den Opfern glaubwürdig entschuldigt hat und sein Verhalten ändert, sehe ich keinen Grund, mit solchen Kollegen nicht wieder zusammenzuarbeiten.