Infusion des Grauens

von Redaktion

Premiere im Metropoltheater

Sie rollen den Kriminalfall der Gesundheitsversorgung in unserem Land auf (v. li.): Luca Skupin, Judith Toth, Patrick Nellessen, Hubert Schedlbauer, Dascha von Waberer und Michele Cuciuffo. © Marie-Laure Briane

Dem einen steckt ein Beil im Kopf, der andere trägt seinen Knochen in der Hand, und einem Dritten ragt ein Messer quer durch den Schädel. Damit sind sie die perfekten Allegorien unseres siechen Gesundheitssystems, diese Geisterbahnfiguren, mit deren Auftritt Hausherr Jochen Schölch seine neue Inszenierung am Metropoltheater schön absurd enden lässt: „Geld oder Leben. Die Krankenhausabrechnung“ heißt Ulf Schmidts faktenreicher Mix aus Dokumentartheater und Kabarett, bei dem – zur Titelmelodie der „Schwarzwaldklinik“ – die sattsam bekannten Langzeitfolgen jener neoliberalen „Gesundheitsreform“ auf den Seziertisch kommen, die uns die Regierung von Ex-Kanzler Schröder vor 20 Jahren als Infusion des Grauens verabreichte.

Dass so etwas wie Ausstattung an diesem Abend nur in homöopathischen Dosen vorkommt, kann als Metapher für den allgemeinen Sparzwang im Gesundheitswesen gedeutet werden: Sechs Stühle und ein paar grüne OP-Leiberl – mehr brauchen überzeugende Schauspieler wie Luca Skupin, Judith Toth, Dascha von Waberer oder Hubert Schedlbauer nicht für eine Art Talkshow-Parodie mit Gesangseinlagen plus beflissenem AerobicGehopse. Und wie im richtigen Fernsehen tritt auch hier ein seifiger Professor auf (Patrick Nellessen), der „wissenschaftlich“ erklärt: Es liegt nicht am System, sondern die Patienten sind schuld! Saufen, rauchen und fett essen muss ja krank machen. Darum fordert er: „Ein unternehmerischer Umgang mit der eigenen Gesundheit tut not.“ Schließlich ist nicht das Gesundheitssystem für die Menschen da, sondern umgekehrt…

Verarztet wird aber auch ein gewisser „Karl L.“, momentan Minister, der nicht jener Dr. Harmlos ist, den er gern spielt. Schließlich hat er, so erfährt man, vor 20 Jahren als Berater der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die berüchtigten Fallpauschalen als Heilmittel fürs Gesundheitssystem verschrieben – obwohl er nachweislich deren Risiken und Nebenwirkungen kannte.

Und hier wird das Stück dann wirklich zur Operation am offenen Herzen der Gesellschaft, wenn Michele Cuciuffo als Ankläger beim Namen nennt, was Fallpauschalen angerichtet haben: schwere und gefährliche Körperverletzungen in einer kaum abschätzbaren Zahl, die Ärzte unter dem Druck der Renditevorgaben von oben begangen haben. Zum einen, indem medizinisch unnötige bis schädliche, aber lukrative Operationen durchgeführt wurden; zum anderen, wenn Patienten viel zu früh „blutig“ aus dem Krankenhaus entlassen wurden, weil die Fallpauschale keinen längeren Aufenthalt vorsieht.

Insofern bietet diese Reality-Farce viel mehr als trockene Zahlen: Sie ist aufregender als jeder Krimi, weil hier der ganz reale Kriminalfall der Gesundheitsversorgung in diesem Land aufgerollt wird, der uns alle direkt etwas angeht. Deshalb sollten auch Personen mit schwachen Nerven vor einem Besuch der Vorstellung unbedingt ärztlichen Rat einholen, ob sie sich diese szenische Rosskur zumuten können. Alle anderen hingegen dürfen – wie das Premierenpublikum – am Ende applaudieren, bis der Arzt kommt.
ALEXANDER ALTMANN

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