Unwiderstehlich überraschend

von Redaktion

Countertenor Jakub Józef Orlinski verlässt sich beim Festspiel-Liederabend nicht auf Rituale

Echte Überraschungen sind selten in der klassischen Musikkultur mit ihrem festen Kanon und den fixen Ritualen. Dass der Festspiel-Liederabend von Jakub Józef Orlinski zu diesen seltenen, beglückenden Ereignissen zählt, hat weniger damit zu tun, dass ein Breakdancer auf der Bühne des Münchner Prinzregententheaters steht: Orlinskis Auftritt hat wenig mit musikalischem Crossover zu tun, auch wenn er mit seiner Körperspannung den ganzen Saal in Spannung versetzt. Vielmehr praktiziert der polnische Countertenor ein stimmliches Crossdressing quer durch die Jahrhunderte.

Mit großer Ruhe geht der feinfühlige Pianist Michał Biel „Non t’amo per il ciel“ von Johann Joseph Fux an, die „Arie des reuigen Sünders“, mit der Orlinski das Publikum vom ersten Ton an verzaubert. Unglaublich zart und vollmundig zugleich, irritiert seine eindeutig männliche Stimme in der weiblich gehörten Stimmlage aufs Beste: Sie überrascht.

Es folgen vier Lieder von Henry Purcell, die Orlinski und sein Begleiter kongenial zelebrieren: Mit großer Finesse fließen sie durch die Partituren und setzen mit dem „Cold Song“ einen Meilenstein der Purcell-Interpretation: Auf die akzentuierte Einleitung Biels am Klavier folgt das „Solo des Genius der Kälte“, bei dem sich die in Repetitionen erzitternde Stimme des Countertenors eisig auf die Schultern des Publikums legt – ungeachtet der Hitze im ausverkauften Prinzregententheater.

Der barocke Bogen schließt sich am Ende mit Georg Friedrich Händels „Alleluja, Amen“; dazwischen platzieren Orlinski und Biel drei polnische Komponisten und setzen damit einen kritischen Kontrapunkt zur klassischen Kanonisierung. Die melancholischen Lieder um Liebe, Abschied und Tod von Henryk Czyz sind eigentlich nicht für Countertenor gesetzt – entfalten aber im voluminösen Falsett Orlinskis unwiderstehliche Resonanz.

Sprudelnder, aber nicht weniger eindringlich, sind die kurzen Stücke von Mieczysław Karłowicz, bevor mit Stanisław Moniuszkos „Przasniczka“ ein fröhlicher Rausschmeißer performt wird – von wegen: Mit frenetischem Applaus fordert das Publikum fünf Zugaben ein.
ANNA SCHÜRMER

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