NEUERSCHEINUNG

Der Glamour als Hollywoods eisiges Glitzern

von Redaktion

Amor Towles entwirft in „Eve“ ein Panorama der US-Gesellschaft in den Dreißigerjahren

Der Streit um „Vom Winde verweht“ mit Olivia de Havilland als Dissidentin des Filmgeschäfts ist ein Thema des Buches. © afp

Eine kühle Blondine mit langer Narbe auf einer Wange – wer dächte da nicht an einen Film aus Hollywoods Schwarzer Serie. Kommt Philip Marlowe gleich um die Ecke? In Amor Towles’ neuem Roman „Eve“ sitzt ihr im Zugrestaurant allerdings ein biederer Witwer gegenüber. Charlie erregt ganz gewiss nicht das Interesse der Raucherin, die einen Krimi liest. „Charlie“ heißt das erste Kapitel des Buchs, das durch Beobachtungen und erinnerte Erlebnisse mehrerer Personen nach und nach ein Panorama menschlicher Seelen in der US-amerikanischen Gesellschaft der Dreißigerjahre entwirft. Der ferne Zeitrahmen wird zunächst bloß angedeutet: Rauchen in geschlossenen Räumen, Pillboxhüte, Bahnfahrten (keine Flüge) zwischen New York und Los Angeles.

Towles (Jahrgang 1964) gestaltet sein Sittenbild von, Sie ahnen es, Hollywood anmutig. Sein Stil ist unangestrengt, aber durchkomponiert; dabei zeigen sich Konstruktion und Strategie nie so deutlich, dass man als Leserin verdrießlich würde. Er erlaubt sich Lockerheit und Augenzwinkern, Analyse und Moral, historische Information und Lokalkolorit, ohne je mäandernd abzuschweifen.

Unser Charlie ist also kein cooler Privatermittler, sondern ein pensionierter Kriminaler der Mordkommission. Allerdings kennt er die Abgründe von L.A. seit 1905 und erzählt so lebendig davon, dass die geheimnisvolle Evelyn Ross ihn ins Herz schließt und obendrein bis zur Stadt der Engel mitfährt, obwohl sie doch in Chicago aussteigen wollte. Erzählen kann Leben verändern. Es ist nur natürlich, dass ein Schriftsteller das, wenn auch nicht todernst, postuliert. Und es kann Leben retten, selbst der mäßige Kriminalroman, den Eve liest. In ihm kommt ein Fünf-Sterne-Mickey-Finn vor. Wie man den – am Ende der Geschichte äußerst nützlichen – Drink mixt, lässt sich die Dame zum Glück am Angang von dem Polizisten erklären.

Mit Prentice und Kapitel zwei sind wir zusammen mit Eve in Beverly Hills angelangt und tauchen ein in das herzenskalte Haifischbecken der Filmbranche. Amor Towles macht keine Konzessionen: Glamour ist das tödlich eisige Glitzern des brutalo-kapitalistischen Showgeschäfts. Schauspielerinnen und Schauspieler, Stuntmen, Fotografen und all die anderen sind Sklaven der Studiobosse; David O. Selznick wird hart skizziert. Der Autor führt das System prägnant an einem Jungstar namens Olivia aus, tatsächlich die de Havilland (1916-2020).

Die schillernde Eve nimmt sich ihrer an und wird, zunächst auf lustige Weise, ihr Schutzengel, zugleich die Katalysator-Figur, die Olivia de Havillands Emanzipation vorantreibt. „Vom Winde verweht“ (1939) ist projektiert, die Schauspielerin angefragt; Big Boss Warner blockiert indes die Ausleihe an Big Boss Selznick. De Havilland boxt das Engagement durch; wieder hilft Frauensolidarität. Diese Vorgänge lässt der Schriftsteller freilich nur durch den Vorhang seiner Krimihandlung scheinen. Ein Paparazzo ist mit seiner kleinen Erpressung lediglich eine Mini-Herausforderung für Eve. Gerade als man denkt, das ist ja eher eine harmlose Sache, wird es schlimmer, viel schlimmer.

Das wahre filmhistorische Drama deutet Amor Towles bloß an; freilich so, dass jeder versteht, wie bedeutend es ist. Er erliegt der Versuchung, „Vom Winde verweht“ symbolisch auszuschlachten. Verzeihlich, weil wir dadurch die Tara-Kulissen besuchen dürfen, die gerade von den Handwerkern auf Verfall getrimmt werden: Olivia de Havilland hat in den Vierzigern auf dem Rechtsweg die „Sklaverei“ niedergerungen und den Knebelverträgen der Filmstudios das Ende bereitet.
SIMONE DATTENBERGER

Amor Towles:

„Eve“. Aus dem Englischen
von Susanne Höbel.
Carl Hanser Verlag, München,
223 Seiten; 24 Euro.

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