Teodor Currentzis, umstrittener Dirigent. © Marco Borrelli
Plakate draußen, Proteste drinnen – aber doch nicht bei den Salzburger Festspielen. Dort lebt man, unangekränkelt von der politischen Bedeutung der Kunst, in der eigenen Blase. Was andernorts heftige Reaktionen provoziert hätte, ein Konzert mit dem Dirigenten Teodor Currentzis, das bereitet im Haus für Mozart Gala-Wonnen. Ob für ihn demnächst ein Saal in St. Petersburg gebaut wird, ob er und seine Ensembles weiter von russischen Geldgebern finanziert werden: Gesichert ist das alles nicht, hat aber mehr als ein G‘schmäckle. Am Salzburger Eröffnungsabend gilt‘s allein der Kunst, vor allem Bachs Matthäus-Passion.
Eine Überraschung. Vom Radikalinski Currentzis hätte man anderes erwartet. Ein Aufdonnern des Passionsgeschehens zum Sandalenfilm, mit schäumenden Volkschören und überzogenen Tempi. Currentzis bleibt Maximalist, hier allerdings in seiner Feier der Verhaltenheit. Behutsam nähert er sich dem biblischen Geschehen, aus seiner extremen Durchformung und Analyse der Partitur hört man Respekt und Reflexion heraus.
In den Turbae sucht Currentzis Dramatik im Filigranen. Die Choräle sind weich und gebremst formuliert, Klangschönheit und Textauslegung vermählen sich – und doch gerinnt das nicht zum Ästhetizismus. Überhaupt stimmt die Tempo-Architektur, alles fügt sich organisch ineinander. Bestechend, wie fast jeder Stimmverlauf von den Utopia-Ensembles nachgezeichnet wird. Ob vom herausragenden, textdeutlichen, nie überreizten Chor oder vom relativ groß besetzten Orchester.
Im Gegensatz zur Johannes-Passion, in der Bach dem Herrn als Herrscher huldigt, bildet bei Matthäus der leidende Christus das Zentrum. Currentzis nimmt das auf, eliminiert protestantische Strenge. Ein Katholizismus des Leisen, wenn man so will. Mit zunehmender Dauer häufen sich Manierismen, die eher mit der Inszenierung der Aufführung zu tun haben: Schon vorher gab es eine dezente Lichtregie. Bei „O Haupt voll Blut und Wunden“ verdüstert sich der Saal, ein kleines Ensemble singt die zweite Strophe aus dem Off. Beim Sterbe-Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ verdunkelt sich alles, dazu läutet eine Glocke. Und Jesus muss seine letzten Worte „Eli, Eli, lama asabthani“ an einen Männerchor abtreten. Die Interpretation von Currentzis hätte solches Glutamat gar nicht nötig.
Die Solo-Positionen in den Arien sind mit David Fischer (Tenor), Matthias Winckhler (Bass) und Dorothee Mields (Sopran) famos besetzt, einzig Counter Andrey Nemzer hätte sein „Erbarme dich“ gern der wunderbaren Wiebke Lehmkuhl (Alt) überlassen dürfen. Florian Boesch gestaltet einen Christus zwischen Verzweiflung und gebieterischer Geste. Julian Prégardien singt den Evangelisten mit theatralem Anspruch, mit souveräner, nicht uneitler Pose und gegen Ende (vor allem in Höhenlagen) immer angestrengter. Ovationen.
MARKUS THIEL