In einen Abgrund schauen Tristan (Andreas Schager) und Isolde (Camilla Nylund) – im Gegensatz zum Publikum dieser Festspiel-Premiere. © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Dieser berühmte Bayreuther sah die Sache ganz positiv. „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können.“ Lange vor Richard Wagner fiel dieser Satz, er stammt vom Dichter Jean Paul. Doch manchmal wird das Hirn zur Hölle, zumindest aber zur Rumpelkammer. Hier ein Gedankenfetzen, dort ein Erlebnis, eine Erfahrung, ein Trauma. Dinge, die man mit sich schleppt, man schaue nur in diesen aufgebrochenen Schiffsrumpf: See-Gemälde, antike Statuen, ein Globus, ein Steuerrad, ein Skelett, eine verdorrte Pflanze, überall Zettel. Müsste mal aufgeräumt und geordnet werden. Das schaffen diese Leute aber nicht mehr, sie stehen und singen – und dabei bleibt es auch.
Der Mensch als Opfer seiner Vergangenheit, das liegt bei „Tristan und Isolde“ nah. Dort, wo das meiste vor Beginn des ersten Tons passiert ist und der Rest von steigenden Säften oder, wie Wagner es vorsah, von einem versehentlich verabreichten Liebestrank verursacht wird. Ein Elixier gibt es hier, in der Premiere für die Bayreuther Festspiele, schon auch. Doch tatsächlich, wie Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson zeigt, ist es ein Todestrank. Die eine Hälfte kippt Tristan am Ende von Akt zwei mit entsprechenden Siech-Folgen für Akt drei, den Rest genehmigt sich Isolde vor dem Liebestod.
Von ihrer übermächtigen Vorgeschichte können und wollen sich diese Figuren nicht befreien. So schlüssig bis binsenhaft die These sein mag, so wenig erfahren wir davon. Eigentlich bleibt sie reine Ausstattungsidee und damit delegiert an Bühnenbildner Vytautas Narbutas und Sibylle Wallum (Kostüme). Als da wären ein zugemüllter Mittelakt, bei dem man an Christof Schlingensiefs Assoziationswust seines Bayreuther „Parsifal“ denkt, ein etwas aufgeräumteres Finale. Und vorher, im Eröffnungs-Aufzug, Isolde mit weitem Rock und Schleppe, worauf es viel zu lesen gibt. Nur Insassen der vorderen Reihen kriegen das mit: Es ist Wagners Operntext.
Fast alle Beteiligten sind da schon auf der Bühne, irren in Zeitlupe durch ein Endspiel zwischen Schiffstauen. Doch diese Überfahrt nach Cornwall, so signalisiert Arnarsson, wird eine Reise ins Ich. Im Vorfeld hatte er betont, er wolle das Drama aus einer Psychologisierung der Figuren entwickeln. Das ist nicht neu, sogar selbstverständlich, hier aber nicht zu sehen. Viereinhalb Stunden lang gibt es Wagner auf der Standspur. Singsäulen sondern schwere Partien ab. Was sie miteinander zu tun haben, warum sie einander begegnen, aus dem Weg gehen, lieben, hassen, töten, man erfährt es nicht.
Auf eine eigentümliche Weise, das sei eingeräumt, bleibt man dran an der Generalberuhigung von Wagners hitzigstem Werk. Und wer will, kann es positiv sehen: Die musikalische Fraktion wird in Ruhe gelassen. Manche wie Camilla Nylund nutzen das. Eine sehr lyrische Isolde ist zu erleben, die ihre Stimme auf natürliche, nie forcierende Weise reckt und streckt. Metall und Durchschlagskraft mögen der Finnin fehlen. Doch dafür gibt es erfüllte und erfühlte Phrasen, Gehaltvolles auch ohne Breitband-Sopran, nur am Ende wirkt sie etwas nervös und kurzatmig. Ein größerer Kontrast zum Partner lässt sich nicht denken. Andreas Schager gilt als Experte für Wagners schwere bis unstemmbare Helden. Sein Material prädestiniert ihn dafür, ein großkalibriges Tenor-Geschütz, imponierend, phonstark. Doch wie er damit umgeht, sorgt für den stärksten Tristan-Einbruch der Festspielgeschichte seit Siegfried Jerusalem. Schagers Singen ist so imponierend wie ungeformt. Die lyrischen Momente im zweiten Akt hängen eine Schwebung zu tief. Die Kraftausbrüche funktionieren über zwei Drittel des Abends, die Quittung ereilt Schager dann in Tristans Fieberfantasien. Die Folge: Flucht nach vorn ins Deklamieren und Forcieren, die Höhe bricht weg, der Todestrank wirkt keinen Takt zu früh.
Auch Günther Groissböck kämpft sich zunehmend durch die Marke-Partie. Eine Indisposition? Die Stimme ist belegt, neigt zur Versteifung, Buh-Rufe wie nach dem zweiten Akt verbieten sich dennoch. Christa Mayer gestaltet eine gewohnt emphatische Brangäne, wird aber von der Regie ebenso alleingelassen wie der wackere Raubauz Olafur Sigurdarson als Kurwenal. Überhaupt wird über weite Strecken nicht klar, wer diese Figuren überhaupt sind und, viel schlimmer, dank der dürftigen Beleuchtung, wer gerade dran ist.
Es ist, als ob Semyon Bychkov alle diese Leerstellen flutet. Den „Parsifal“ hat er am Grünen Hügel schon dirigiert, der „Tristan“ ist seine erste Premiere. Man spürt, wie wichtig ihm der Abend ist, wie sehr er in die hintersten Winkel der Partitur gekrochen ist, wie ausgearbeitet alles ist. Doch das Abschmecken der Mixturen, das Nachspüren der Musik in überlangen Generalpausen, die kundig hervorgehobenen Bläser-Korrespondenzen mit der Gesangslinie, das Farbenspiel, all dies driftet schnell ins Geschmäcklerische.
Dass diese Partitur nicht nur Symphonik mit Gesangsbeilage ist, entgeht Bychkov. In vielen Phrasen müssen die Sängerinnen und Sänger nachatmen. Und selbst im dramatischen Aufwallen, das Bychkov versiert inszeniert, ist diese Deutung weniger zielgerichtet und zugespitzt, sie scheint sich dauernd selbst zuzuhören. Eine Energie des Augenblicks, nicht der Übersicht. Gerade weil der vorherige Bayreuther „Tristan“ erst zwei Jahre her ist, tut sich eine schmerzliche Lücke auf: zwischen dem reflektierten Theatermusiker Markus Poschner und dem von sich und der Partitur begeisterten Semyon Bychkov.
2022 hatte Katharina Wagner den Vorgänger-„Tristan“ ins Programm genommen. Als Ersatzstück, das schnell eingeschoben werden kann, sollten die großen Chor-Opern wegen Corona-Ausfällen nicht gespielt werden können. Regisseur Roland Schwab musste damals wegen seiner weitgehend aktionslosen Bildverliebtheit (berechtigte) Kritik einstecken. Jetzt, zwei Sommer später, zeigt sich noch stärker: Warum wurde diese Produktion eigentlich entsorgt?
Weitere Vorstellungen
am 3., 6., 9., 15., 18. und 26. August; Kartenstand unter www.bayreuther-festspiele.de.