Abschied einer Ikone

von Redaktion

Neumeier verlässt das Hamburg Ballett

Legendärer Ballettchef: John Neumeier. © Angelika Warmuth

Eigentlich wollten die Japaner 1986 bei der ersten Tournee des Hamburg Balletts in ihrem Land kein christliches Werk sehen. Schließlich entschied sich John Neumeier doch, seine Choreografie zu Bachs Matthäus-Passion aufzuführen. In Hiroshima, dem Ort des Atombombenangriffs der USA von 1945. Als US-Amerikaner sei dieses Ereignis ein gewisses Trauma für ihn, erzählt Neumeier kürzlich bei einem Gesprächsabend im Hamburger Michel. Die Aufführung dieses Werks über Schuld, Liebe und Vergebung an diesem Ort sei ein Versuch gewesen, zur Hoffnung aufzurufen. „Das war der Höhepunkt meiner Karriere.“

Der Wunsch nach Frieden zieht sich durch Neumeiers Schaffen, das nun an einem Wendepunkt steht. Morgen will der 85-Jährige die Leitung des Hamburg Ballets abgeben. 51 Jahre stand er an der Spitze des von ihm gegründeten Ensembles – damit ist er Deutschlands dienstältester Ballettdirektor.

In die Wiege gelegt wurde Neumeier die große Karriere nicht: Geboren als Sohn eines Seemanns und einer Hausfrau in der US-amerikanischen Stadt Milwaukee, interessierten ihn schon früh Zeichnen, Malen, Lesen und das Tanzen. Seine Mutter förderte seine Interessen nach Kräften, ließ ihn Zeichenunterricht nehmen und ging mit ihm ins Kino und ins Ballett. Auf Wunsch seiner Eltern studierte er zunächst Englische Literatur und Theaterwissenschaften. Den Schritt, aus seiner Passion einen Beruf zu machen, wagte er dank eines Jesuitenpaters: John J. Walsh, Tanzlehrer an der katholischen Marquette-Universität in Milwaukee, wies dem jungen Mann seinen Weg als Tänzer. Und der führte Neumeier in kürzester Zeit ganz nach oben. Über New York ging es nach London und Stuttgart, wo mit John Cranko damals einer der renommiertesten Ballettdirektoren tätig war.

Von 1963 bis 1969 gehörte er Crankos Kompagnie an, entwarf auch erste Choreografien. Es folgte der Ruf als Ballettdirektor nach Frankfurt und schließlich nach Hamburg. Dort erschloss er etwa dem Ballett die Weltliteratur: von Homers „Odyssee“ über Alexandre Dumas’ „Kameliendame“ bis hin zu Thomas Manns „Tod in Venedig“.

Neumeier gilt als extrem fleißig und verlangt seinen Tänzern viel ab. In Hamburg folgt ihm der bisherige Düsseldorfer Ballettchef Demis Volpi nach. Neumeier wird sich unterdessen nicht ganz zurückziehen, sondern bis 2030 das Festival „The World of John Neumeier“ in Baden-Baden kuratieren.
MICHAEL ALTHAUS

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