SALZBURGER FESTSPIELE

Überwältigungstheater

von Redaktion

Neueinstudierung von Romeo Castelluccis „Don Giovanni“

Stimmlich und darstellerisch eine Idealbesetzung: Davide Luciano als Don Giovanni. © Monika Rittershaus

Vielleicht ist es die stärkste Szene der Produktion: Don Giovanni hat die Statue vom Grabmal des von ihm ermordeten Komturs zum Essen geladen. Auf der riesigen Bühne des Großen Festspielhauses steht die Titelfigur alleine in der leeren weißen Architektur einer aufgelassenen Kirche. Der steinerne Gast, der Komtur? Niemand da. Nur seine Stimme ist zu hören. Sie fordert den Helden auf, seine Schandtaten zu bereuen, einzugestehen, dass er durch den Missbrauch von tausenden von Frauen unfassbares Elend auf die Welt gebracht hat. Zu den anklagenden Worten bewegt Don Giovanni seine Lippen synchron: ein Selbstgespräch. Seine Erinnerungen und sein Gewissen, denen er nicht nachgeben will, quälen ihn, zerreißen ihn fast.

Und dann zerrt er sich die Kleider vom Leib, wälzt sich auf dem Boden (der mit weißer Farbe bedeckt ist), bis sein Körper selbst wie eine Statue aussieht, und er erstarrt: statt Höllenfahrt Versteinerung. Davide Luciano zeigt sich hier nicht nur stimmlich als Idealbesetzung des Titelhelden, sondern auch schauspielerisch – das muss sich ein Sänger erst mal trauen.

Zu dieser beeindruckenden Szene steuert das erst 2022 von Teodor Currentzis gegründete Utopia Orchestra unter der Leitung seines Erfinders den Soundtrack bei. Die heftigen Ausbrüche, der Mut zu radikalen Tempi, zur Suche nach den Dissonanzen in der Partitur passt kongenial zur Inszenierung, für die der italienische Regisseur und Bühnenbildner Romeo Castellucci verantwortlich zeichnet.

Noch vor der Ouvertüre gibt der Regisseur eine Interpretationshilfe seiner Regie. Der Vorhang geht auf, und es ist der Innenraum einer weiß getünchten Kirche zu sehen. Sofort kommt ein Trupp Arbeiter herein, die alles entfernen, was aus einem Gebäude ein Gotteshaus macht: Altäre, Gemälde, Kirchenbänke, bis die reine Architektur übrig bleibt, durch die ein Ziegenbock rennt: Die Nächstenliebe wird abgeschafft, die Geilheit zieht ein.

Castellucci überwältigt mit fulminanten Bildern. Da kommt als Statussymbol des reichen Wüstlings eine Luxuslimousine herabgeschwebt. Bei der Verführungsszene fesselt der Frauenverächter das Bauernmädchen Zerlina, während sich eine Hochzeitskutsche vom Schnürboden herabsenkt, in Schwarz, wie ein Leichenwagen. Als Donna Elvira auf Don Giovanni trifft, entspinnt sich ein fein ausziselierter Beziehungskonflikt.

Später werden Matratzen, Geschirr, Fußballtore zerlegt und in brennende Müllcontainer geworfen. Das Chaos bricht sich Bahn. Die Bühne wird verhängt, mal mit schwarzen, mal mit weißen Gardinen. Und eine Menge an Frauen, die Don Giovannis Opfer darstellen, umkreisen ihn, sind in der Friedhofsszene mal die Toten, mal die vervielfältigte Statue des Komturs, die exzessiv mit dem Kopf nicken, um zu signalisieren, dass sie die Einladung des Wüstlings annehmen.

Das Ensemble spielt nicht nur voller Energie mit, sondern überzeugt vor allem stimmlich. Davide Luciano in der Titelpartie singt mit enormer Virilität und eleganter Wendigkeit. Seinen Diener Leporello, optisch kaum von seinem Chef zu unterscheiden, sein Alter Ego, gestaltet Kyle Ketelsen nicht minder stimmgewaltig und aufgekratzt.

Im exquisiten Damentrio glänzt die russische Sopranistin Nadezhda Pavlova als Donna Anna. Ihre Stimme fließt vibratolos und hat ein sehr weiches Timbre. Federica Lombardi (Elvira) besticht durch ihre gerade, vibratoarme und doch warme Stimme, die gerade im Piano wunderbar leuchtet. Als Zerlina entzückt Anna El-Khashem. Julian Prégardien singt einen herausragenden, kultivierten Don Ottavio.

Teodor Currentzis lässt nicht einfach nur schnell, laut und expressiv spielen, sondern geht auch behutsam, leise und lyrisch zu Werke. Die Rezitative werden mit zeitgenössischen Klängen und Dissonanzen durchmischt. Das Publikum feiert die Neueinstudierung einer 2021 herausgekommenen Produktion mit Standing Ovations.
THOMAS ROTHKEGEL

Weitere Vorstellungen

am 6., 9., 11., 14. und 19. August; Kartenstand unter
www.salzburgerfestspiele.at.

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