SALZBURGER FESTSPIELE

Das Rätsel Mensch

von Redaktion

Ovationen für Weinbergs Dostojewski-Oper „Der Idiot“

Holbeins „Der tote Christus im Grab“ ist Teil des Bühnenbilds. Dostojewski wurde von dem Gemälde sehr bewegt, in seinem Roman „Der Idiot“ hängt eine Kopie bei Rogoschin (Szene mit v.li. Bogdan Volkov, Ausrine Stundyte und Iurii Samoilov). © Bernd Uhlig

Wie die Welt verstehen, wenn es schon mit der allernächsten Umgebung, sogar mit dem eigenen Ich nicht klappt? „Der Mensch ist ein Rätsel, das muss man lösen“, singt Myschkin, und so heißt es auch in der Vorlage bei Fjodor Dostojewski. Womöglich hilft reine Ratio: Eine endlose Bruch-Rechnung inklusive Wurzelziehen und Zahlenpotenz krakelt der Fürst an die Tafel, doch die Unbekannten sind zu viele. Newton geteilt durch Einstein bleibt übrig, als ob das was hülfe.

Im Falle Myschkin ist für die anderen die Diagnose schnell klar. Ein Idiot, ein „Gottesnarr“ sei er. Weil ihnen sein schrankenloses Mitleid nicht geheuer ist, seine Existenz ohne Vorurteile und Skepsis; sie fühlen sich ertappt. Mieczyslaw Weinberg (1919-1996), vielleicht der größte verkannte Komponist des 20. Jahrhunderts, hat Dostojewskis Roman adaptiert und mit Librettist Alexander Medwedew eingedampft auf vier Opernakte. Und jedes Mal, wenn „Der Idiot“ irgendwo gespielt wird seit seiner postumen Uraufführung 2013, ist die Bestürzung, die Betroffenheit groß. So auch jetzt bei den Salzburger Festspielen.

Das Libretto, man spürt es an langen Konversationsstrecken, wird der 1000-Seiten-Vorlage nicht ganz gerecht. Dafür diese Musik, die einen dritten Weg findet zwischen der karikaturenhaften Schroffheit eines Schostakowitsch und den zwölftönigen Schmerzenslandschaften eines Alban Berg. Vorausgesetzt, man spielt und dirigiert sie so wie an diesem Premierenabend in der Felsenreitschule. Mirga Grazinyte-Tyla ist heimgekehrt. Einst war sie in Salzburg Musikdirektorin des Landestheaters, jetzt, einige Karriereschrauben weiter, steht sie bei den Festspielen am Pult der Wiener Philharmoniker. Und dort, im Graben, herrscht großes Einverständnis, das ist vielleicht die wichtigste Nachricht bei diesem selbstbewussten Klangkörper.

Die Ungerührtheit, mit der die litauische Dirigentin Klarheit und Formbewusstsein einfordert, wie sie Schichten scheidet und Leitmotive modelliert, wie sie eine Überfülle an Farben und Nuancen aus der Instrumentation entwickelt, ohne sich darin zu verlieren, wie der Leidenston ohne Larmoyanz getroffen wird und Dramatik ohne Drastik, all das ist außergewöhnlich. Einmal bäumt sich das Orchester auf zu einem Popanz in Schwarztönen, der dann ermattet zusammensinkt: Nicht nur hier, bei solchen Kulissenwechseln, ist das wie selbstverständliche Handwerk Grazinyte-Tylas zu bestaunen, auch die Bühnenbesatzung wird mit kurzen, energischen Zeichen gelotst. Es ist ein Triumph.

Fürs Gesangsensemble ebenso. Bodgan Volkov kennt man als Mozart-Experten. Der Myschkin liegt etwas außerhalb seines lyrischen Fachbereichs. Und doch wird daraus ein immens kluges, berührendes Charakterporträt. Mit somnambulen Tönen, einer sehrenden Klanglichkeit und einem ganz eigenen Tenorzauber, der übers Orchester weht: Die Zerbrechlichkeit und die Zwischenexistenz des Fürsten hört man heraus und oft auch die tödliche Verzweiflung. Ausrine Stundyte als Nastassja passt nur bedingt dazu. Als Gesamtkunstwerk funktioniert diese Charaktersängerin immer. Doch viele hochdramatische Einsätze haben Spuren und Abstumpfungen hinterlassen. Dafür singspielt Vladislav Sulimsky einen Rogoschin zwischen abstoßender Virilität und unterschwelliger Erotik. Festspielformat auch auf anderen Positionen, man nehme nur Pavol Breslik (Ganja), Iurii Samoilov (Lebedjew) oder Margarita Nekrasova (Jepantschina).

Für Salzburg ist dies zwei Wochen nach Festspielstart die erste echte Opernpremiere – nach einem nur konzertanten „Capriccio“ und der Neueinstudierung von „Don Giovanni“. Und Krzysztof Warlikowski erkennt man fast nicht wieder. Normalerweise schüttet er seine Inszenierungen zu mit einem raunenden Symbolismus, flüchtet sich auch in Selbstzitate wie kürzlich bei Ligetis „Le Grand Macabre“ in München. Umso erstaunlicher die Reduktion, die er und Ausstatterin Malgorzata Szczesniak für „Der Idiot“ finden. Was wieder zu erleben ist: Atmosphärisches, Verlagerung von Kraftfeldern, die uneindeutige, verrätselte Illustration, all das ist wichtiger, als eine Figur von innen nach außen zu entwickeln.

Und doch ist in dieser Warlikowski-Arbeit eine Fokussierung auf die Handelnden möglich, weil sie sich in szenischen Metaphern nicht dauernd verirren müssen. Vieles ist diese überbreite Bühne mit ihrem Furnierholzcharme. Eine kleine Sitzgruppe lässt an ein Restaurant denken, Typ amerikanischer Diner. Die Tafel mit den Formeln an ein Klassenzimmer, der lange Tisch an einen Salon. Und für Privates, Intimes, gibt es ein Schlafzimmer mit Stickereien, das nach vorn gefahren wird und in dem Nastassja, verborgen hinter Vorhängen, von Rogoschin erstochen wird.

Die religiösen Konnotationen von Roman und Oper sind präsent, diskret oder als monumentale Chiffre. Im Schlafzimmer hängen Ikonen. Und zum Beginn des zweiten Teils liegt Myschkin nach einem epileptischen Anfall (den Volkov irritierend gut spielt) unter Holbeins „Der tote Christus im Grab“, ein Gemälde, das Dostojewski faszinierte: der Fürst als kleiner Bruder des Messias, der rettungslos an das Gute im Menschen glaubt. Die Videos von Kamil Polak sind dezent eingesetzt, in ihrer Wirkung darum umso stärker – bis zur finalen Szene, wenn sich Myschkin und Rogoschin neben Nastassja aufs Totenbett legen.

So heftig bewegt manches gerät, so sehr legt sich doch über alles eine WartesaalAtmosphäre. Warlikowski lässt sich oft auch zurückfallen und vertraut auf seine starken Sängerinnen und Sänger, vielleicht hat er in jüngster Zeit einfach zu viel inszeniert. Die Ovationen sind jedenfalls groß und lang. Wie fast immer bei Weinberg, der endlich in einer Hauptstadt der Festspielwelt angekommen ist.

Weitere Vorstellungen

am 11., 15., 18. und 23. August; www.salzburgfestival.at.

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