Eine Leica M6 hat Jessica Lange einst der Schauspieler Sam Shepard geschenkt. Es war der Beginn ihrer Fotografie-Leidenschaft. © Simon Chaput/Deutsches Theatermuseum
In München: Beim Filmfest war Lange zu Gast. © babirad
New York während der Corona-Pandemie. Jessica Lange wählt Schwarz-Weiß-Fotografie – das passt zu dieser Zeit, die einem heute, obwohl doch nur zwei Jahre später, ewig her scheint. Sie ist damals durch die fast menschenleere Stadt gestreunt. Getrieben von einem wunderbaren Begriff: „Dérive“ hat der französische Situationist Guy Debord (1931-1994) einen Zustand des Umherschweifens, des Sich-treiben-Lassens 1956 genannt. Es war sein Appell, die städtischen Räume auf andere Weise als immer gehetzt, immer atemlos, immer im Dauerschritt zu erleben. Debord ermunterte dazu, festgefahrene Wege zu verlassen. Im übertragenen Sinne und ganz praktisch: Warum nicht mal auf einer Parallelstraße zur Arbeit radeln oder am Abend statt mit der U-Bahn ein paar Stationen zu Fuß heim spazieren? Mit Ruhe und offenem Blick; die Wegführung übernimmt nicht die Uhr, sondern das eigene Gefühl.
Jessica Langes Sohn hatte ihr im März 2020 von der Theorie des „Dérive“ erzählt. Die Schauspielerin probierte es aus, verließ fast jeden Tag ihre Wohnung mit dem Ziel, kein Ziel zu haben. „Ich machte mich zu Fuß auf den Weg, um mich von meiner Umgebung und den dortigen Begegnungen im Sinne Guy Debords anziehen zu lassen“, erzählt Lange in einem Interview 2022. In Dauerschleife läuft es auf einem Monitor im Deutschen Theatermuseum München. Es ist ein sehr persönliches Gespräch, in dem der Hollywoodstar Jessica Lange ihre private Seite zeigt. Fans kennen die 75-Jährige aus etlichen Klassikern: Von „King Kong“ (1976) über „Tootsie“ (1982) bis „Endstation Sehnsucht“ (1995) – für ihr facettenreiches Lebenswerk wurde sie vor Kurzem beim Filmfest München mit dem CineMerit Award geehrt (wir berichteten). In diesem Rahmen kam es auch zu der Kooperation mit dem Theatermuseum, das nun erstmals in Deutschland die Fotokunst der Schauspielerin zeigen darf.
Es ist eine überschaubare Sommerausstellung, die auch von den vielen internationalen Besuchern, die gerade in der Stadt sind, gut angenommen wird. In „Through her Lens – Photographs by Jessica Lange“ sehen sie Bilder aus zwei Werkreihen: Neben besagten Fotografien aus New York während der Pandemie die Serie „Highway 61“, die 2019 auf der titelgebenden Straße entstand. Sie führt mitten durch die USA. Von der kanadischen Grenze aus erstreckt sie sich bis New Orleans, verbindet Norden und Süden miteinander. Es ist eine Strecke, die Lange von Kindesbeinen an kennt. Ihr Geburtsort in Minnesota liegt am Highway 61, ihre ganze Familie wurde in Städten entlang der Route geboren, hat dort gelebt, ist dort gestorben. 1600 Meilen, acht Staaten. So viele Geschichten.
Auf Höhe der alten Überschwemmungsgebiete des Mississippi-Deltas nennt man ihn Blues Highway, es ist das Zuhause der großen Bluessänger des 20. Jahrhunderts. Viele von ihnen besangen die Route. Und machten in ihren Liedern auch die Einsamkeit in dieser Region spürbar; das Gefühl von Heimatlosigkeit, vom Wegbrechen der Arbeitsstätten, von Armut, wo früher Fabriken und Einkaufszentren standen. Jessica Lange fängt das in ihren Bildern ein. Darauf zu sehen sind vornehmlich verlassene Orte, das korrespondiert ideal mit den New Yorker Fotos. Manchmal weiß man gar nicht: Liegt dieser Eingang zu einem abgerockten Bordell jetzt am Highway oder im Big Apple?
Damit wirft sie uns auf die Frage zurück, was passiert, wenn die Menschen fehlen. „Ich habe irgendwo gelesen, dass der Sinn einer Stadt darin besteht, die Einsamkeit erträglich zu machen“, erzählt Lange im Interview. Doch was, wenn da keiner mehr ist, die Stadt zur Geisterstadt wird?
Ihr ist es wichtig, die Bilder ihrer Leica M6 nicht nachträglich zu bearbeiten. Durch teilweise Unschärfen wirken die melancholischen Arbeiten umso unmittelbarer. Hier geht es nicht um Inszenierung, sondern um „Dérive“ in Vollendung: Was zählt, ist der Moment.
KATJA KRAFT
Bis 8. September
Di. bis So. 11 bis 17 Uhr;
Galeriestraße 4a.