Symbol für Verletzlichkeit, Schmerz, auch: Weiblichkeit. Franz Marcs „Getötetes Reh“ (1913). © Stiftung Stangl, collecto.art
Phänomenale Bronzearbeiten von Renée Sintenis gibt es in der Sommerschau „Das Reh fühlt“ zu sehen. © Bernd Sinterhauf
Frischen Wind bringt Jessica Keilholz-Busch ins Franz Marc Museum in Kochel am See. © Arndt Pröhl
Sie ist von Mönchengladbach nach Kochel gezogen. Und wenn Jessica Keilholz-Busch in der Abenddämmerung durch die oberbayerische Natur spaziert, ihr dabei wie vor ein paar Tagen die Rehe zögernd aus dem Unterholz entgegentreten, dann spürt sie, warum der Künstler Franz Marc (1880-1916) derart fasziniert von diesen zarten Geschöpfen war. „In solchen Momenten wird einem noch stärker bewusst, wie eng unsere Lebensräume mit denen der Tiere verschmolzen sind – und wie sehr wir sie zwingen, sich Nischen in unserer Ausbreitung zu suchen.“
Die 40-Jährige ist hörbar angekommen in ihrer neuen Heimat. Mit ihrem Ehemann zog sie im Frühjahr her, übernahm den Posten der langjährigen Leiterin des Franz Marc Museums, Cathrin Klingsöhr-Leroy – und hat in dieser kurzen Zeit schon auf beeindruckende wie feinfühlige Weise die ersten Teile ihres Konzepts für das Haus umgesetzt. Was immer wieder durchscheint, wenn man mit der neuen Chefin durch die von ihr umgestalteten Ausstellungsräume geht, ist ihr Augenmerk auf einen nachhaltigen, ressourcenschonenden Museumsbetrieb, auf Gleichberechtigung und auf die Lust daran, anderen mehr Lust auf tiefere Auseinandersetzung mit Kunst zu machen. Damit ist Jessica Keilholz-Busch ganz beim Namensgeber des Hauses. Denn Franz Marc hat ja nicht aus Jux und Dollerei das Reh zum Lieblingsobjekt in seinen Werken erhoben. Es ist Symbol für Zartheit, Schutzlosigkeit, übrigens auch: Weiblichkeit.
Marc geht es darum, sich einzufühlen in die Wahrnehmung der Tiere. Wie sehen sie die Welt? „Seine Bilder entstanden in einer Zeit, in der man sich erstmals die Frage stellte, ob Tiere mehr sind als Objekte. Darwin beschäftigte sich 1872 mit der Ähnlichkeit der Menschen und Tiere im Gemütsausdruck – und stellte fest: Da gibt es genau die gleichen Emotionsausdrücke“, erzählt Keilholz-Busch. Wenn also diese Emotionsausdrücke wie Furcht, Leid, Freude beim Tier vorhanden sind, dann, so Darwin, müssen doch auch sie diese Emotionen empfinden. Daraus folgen moralische Konsequenzen: Darf man fühlende Kreaturen wie Objekte behandeln? Sie einpferchen, quälen, essen? Es entstanden Tierschutzvereine, die Bewegung des Vegetarismus. Indem Marc in seinen Bildern die Rehe ins Zentrum setzt, sie in kubistischen Formen mit ihrer Umgebung zu einer symbiotischen Einheit verwebt, macht er deutlich: Wer die Tiere tötet, zerstört die Natur.
Doch da ist auch seine persönliche Zuneigung zu den rostbraunen Tieren, Keilholz-Busch verweist darauf mit mehreren großen Fotografien, die jetzt in einem der Ausstellungsräume hängen. Wie mit Hunden spielt Marc mit Hanni und Schlick, den beiden Rehen, die er und seine Frau Maria als Haustiere hielten. Überhaupt versucht Keilholz-Busch, den Menschen hinter dem Künstler sichtbar zu machen. „Im Gespräch mit unseren Aufsichten oder Besucherinnen und Besuchern ist mir aufgefallen, dass ein großer Wunsch besteht, mehr zu erfahren über die Künstlerinnen und Künstler. Dem würde ich gern entsprechen.“ So hängen in der Präsentation die zwei Kollektive des deutschen Expressionismus einander gegenübergestellt: Brücke und Blauer Reiter. Wobei sie deutlich machen möchte, dass es diese harte Grenze zwischenmenschlich gar nicht gab. Im Grafikkabinett stellt sie Postkarten aus, die Brücke-Künstler Erich Heckel an Marc schickte.
Und noch etwas ist neu: Ein ganzer Raum wird jetzt Maria Marc (1876-1955) gewidmet, die so viel mehr war als bloß „die Frau von“. Der neuen Museumsleiterin ist es in der kurzen Zeit gelungen, den Erwerb von Maria Marcs Gemälde „Blumen und Blätter“ durchzusetzen. Es hängt allein in einem Kabinett. „Diese singuläre Präsentation soll auch auf die Leerstellen hinweisen, die es selbst in unserer reichen Sammlung gibt“, erklärt die neue Chefin. Zwar findet man in Kochel einige Arbeiten etwa von Gabriele Münter (1877-1962) oder Else Lasker-Schüler (1869-1945), doch das Gros der Werke ist, wie immer, von männlichen Künstlern. „Dabei ist gerade der Blaue Reiter ja dadurch interessant, dass er im Gegensatz zur Brücke eine Gruppierung war, in der auch Frauen eine große Rolle gespielt haben.“
Und so wird es künftig in jeder Ausstellung weibliche Perspektiven geben. In der Sommerschau „Das Reh fühlt“ sind es die fabelhaften Arbeiten der Berliner Bildhauerin Renée Sintenis (1888-1965). „Zu ihrer Zeit hieß es: Ach, die Sintenis, die macht diese niedlichen Tierchen, diese Frauenthemen. Obwohl sie bildhauerisch phänomenal ist, hat ihre Arbeit nicht zu Erfolg geführt.“ Begeistert steht man vor den filigranen Reh-Bronzen, die nun in einer Vitrine versammelt sind – diese Ausdruckskraft, diese Feingliedrigkeit. Höchste Zeit, dass das alle Welt sieht. Und alle Welt – die kommt nach Kochel. „Das war einer der Gründe, mich für die Stelle zu bewerben: Wir sind ein Ausflugsmuseum. Ein Ort, den die Menschen im Urlaub oder am Wochenende besuchen – das heißt, sie kommen schon mit einem guten Gefühl her.“ Hier kann und will Jessica Keilholz-Busch ihnen in den kommenden Jahren das vielfältige Werk des Franz Marc näherbringen. „Es ist so reichhaltig, es spiegelt so viele Themen, die auch uns heute noch oder wieder betreffen. Sie durch die Brille des deutschen Expressionismus zu betrachten, das ist mein Ziel“, sagt’s und lächelt. Man hat so das Gefühl: wird gut.
KATJA KRAFT
Die Sonderausstellung
„Das Reh fühlt“ läuft bis
6. Oktober; Di.-So. 10-18 Uhr; Franz Marc Park 8-10, Kochel.