Bestens bewegt

von Redaktion

„Spiegelneuronen“ von Stefan Kaegi und Sasha Waltz bei den Salzburger Festspielen

Mittendrin statt auf der Bühne: die Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Sasha Waltz & Guests. © Bernd Uhlig

Der Mensch „ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, wusste schon Friedrich Schiller. Bei „Spiegelneuronen“ spielt das Publikum mit Luftballons. Unter anderem. © Bernd Uhlig/Salzburger Festspiele

Wie Sie sehen, sehen Sie – sich. Und Sie sehen alle anderen, die an diesem Mittwochabend Platz genommen haben auf einem der 500 Stühle in der Szene Salzburg bei der Festspiel-Uraufführung von „Spiegelneuronen“. Stefan Kaegi hat für seinen „dokumentarischen Tanzabend mit Publikum“ einen beinahe raumfüllenden Spiegel, zentrales Element jedes Ballettsaals, an die Bühnenrampe bauen lassen. In diesem erblicken wir uns, die anderen und die Masse Mensch, deren Teil wir sind. Fächer fächern, Frisuren werden zurechtgezupft, Handyfotos gemacht (mit Blitz, logisch).

Kaegi, Schweizer Regisseur mit ganzheitlichem Ansatz, ist Mitbegründer des Kollektivs Rimini Protokoll, das von Beginn an einem partizipativen, dokumentarischen Theateransatz folgt: Die Truppe holt gerne verschiedene Lebenswirklichkeiten auf die Bühne, im besten Fall folgt dann Reflexion aus der Betrachtung. Für „Spiegelneuronen“ hat sich Kaegi, Jahrgang 1972, nun mit der Choreografin Sasha Waltz und ihrer Compagnie zusammengetan.

Die Produktion hat ihren Titel von jenen Nervenzellen im Gehirn, die eng verbunden sind mit unserer Fähigkeit zur Empathie. Sie „spiegeln“ Handlungen anderer Menschen und ermöglichen dadurch, deren Verhalten nachzuahmen. Durch unsere Spiegelneuronen sind wir also in der Lage, Gefühle, Absichten, Taten unserer Mitmenschen besser zu verstehen und einzuordnen.

Das liest sich furchtbar theoretisch und wissenschaftlich dröge. Doch „Spiegelneuronen“ unterläuft nicht nur diese Befürchtung, sondern zugleich auch zig Theaterrituale mit großer Leichtigkeit und einem luftigen Lächeln. Es ist ein Abend, der vieles erklärt. Ein Abend, der einiges anstößt (nicht nur Luftballons, doch dazu später). Und ein Abend der zahlreichen Möglichkeiten. Letzteres gestattet jedem Gast ein enormes Maß an Freiheit. Teil der Masse sein? Oder nicht? Alles ist möglich.

Die Tänzerinnen und Tänzer sitzen verteilt im Publikum, unerkannt. Sandra Tiersch hat sie gekleidet wie Festspielbesucher. Diese sieben Menschen sind in den folgenden 80 Minuten die Ausgangspunkte für Bewegungsimpulse. Doch nicht nur sie. Auch Besucherinnen und Besucher nutzen die Möglichkeit des Spiegels, um Gesten auszuprobieren – und zu schauen, wie die anderen darauf reagieren. Das macht diese Inszenierung fürs Ensemble mitunter unberechenbar – und sorgt mehr als bei vielen anderen LiveErlebnissen dafür, dass keine Vorstellung der anderen gleicht. Wir kennen (und genießen) kollektive Choreografien aus unterschiedlichen Bereichen, aus der Fankurve beim Fußball etwa oder von Rock- und Popkonzerten. Hier werden sie nun mit unserer Hilfe zu Theater (Stillsitzen ist ausdrücklich nicht erwünscht) – und sie werden zudem intellektuell gerahmt.

Denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter John-Dylan Haynes, Professor für Hirnforschung an der Charité, die Soziologin Sarah Karim oder auch Tania Singer, Professorin für Psychologie und Soziale Neurowissenschaften, beleuchten aus ihrer jeweiligen Disziplin das Phänomen der Spiegelneuronen und die Fragen, wie sich jeder Einzelne zu einem Kollektiv positioniert und warum. Ihre Beiträge, die auf der Tonspur eingespielt sowie auf die Bühne projiziert werden, fassen den Abend dramaturgisch geschickt. Geht es zunächst um simple Überlegungen, wie jener, wie das Publikum dazu „verführt“ werden kann, bei einfachen Streck- und Dehnbewegungen mitzumachen, wird es im Verlauf komplexer. Wir erfahren, dass Vertrauen in unserer Natur liegt (unsere „stärkste Überlebensstrategie!“), dass Skepsis gesund und das synchrone Bewegen einer Menschenmasse problematisch ist – und wir lernen das Prinzip „The Winner takes it all“ kennen: Wenn mehr als die Hälfte der anwesenden Leute eine bestimmte Sache machen, schließen sich dieser immer mehr an.

Die elegante und pointierte Lichtführung von Martin Hauk, die traumhaft schönen, fantastisch plastischen 3DAnimationen von Videokünstler Mikko Gaestel und nicht zuletzt der Soundtrack von Tobias Koch, der zwischen Geräuschhaftem und Electro schwingt, sorgen für ein eindrückliches (Tanz-)Theatererlebnis. Das manchen im Publikum jedoch zu weit geht. Interessanterweise verlassen bei der Premiere die meisten Menschen den Saal, als es um behutsamen Körperkontakt geht, etwa darum, die Hand auf die Schulter des Nachbarn zu legen, wenn das für beide okay ist.

Der ganz große Teil lässt sich am Mittwoch allerdings bestens bewegen. Nach einer Stunde spielen die Festspielgäste mit neongelben Luftballons, ausgelassen wie Kinder. Das muss man als Regisseur und Choreografin erst einmal schaffen. Am Ende schließlich singen alle (sehr gut!) zu Radiohead: „I wish I was special/ You’re so fuckin’ special/ But I’m a Creep/ I’m a Weirdo/ What the Hell am I doin’ here?“ Ja, was zur Hölle treiben wir auf unserem Planeten eigentlich? Feiern wir das Miteinander – und lassen uns berühren. In vielerlei Hinsicht.

Langer, heftiger Applaus – für die Künstlerinnen und Künstler und alle Menschen im Publikum.

Weitere Vorstellungen

heute sowie am 17., 18.,
19. und 21. August;
Telefon 0043/662/80 45 500.

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